1. Kapitel

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22, 23, 24, 25... Zum bestimmt fünften Mal versuchte ich die Linoleum Fliesen des Bodens vor mir zu zählen. Doch ab einem gewissen Punkt lässt meine Konzentration nach oder es schieben sich ein Paar Schuhe durch mein Blickfeld und ich kann nicht anders, als dann mein Schuh-, Persönlichkeitsspiel zu spielen. Denn das funktioniert folgendermaßen: Ich sah mir zuerst die Schuhe ganz genau an, überlegte mir, wie wohl die Ausstrahlung der Person war, die sie trug und sah mir erst dann die genannte Person an. Man kann es kaum glauben, aber es ist tatsächlich möglich Menschen anhand ihrer Schuhe zu durchschauen.

Ich wand meinen Blick zu dem Tresen mir gegenüber zu, an dem die Sekretärin Mrs Hodgh stand und gerade meine Papiere zusammen suchte. Sie hatte sich seit dem letzten Jahr kein bisschen verändert. Ihre Vorliebe für streng wirkende, stets einfarbige Kostüme, die ausschließlich von Hugo Boss sein mussten war geblieben. Der dicke Ring an ihrem Ringfinger musste wohl bedeuten, dass sie immer noch mit diesem reichen und alten Knacker zusammen war, durch den sie überhaupt das Geld hatte um sich solche teuren Klamotten und die ständigen Maniküren leisten zu können. Ich fragte mich, wieso sie wohl immer noch hier arbeitete? Immerhin war sie ja nicht von diesem Job hier an der Thomas Jefferson Highschool abhängig. Ich schüttelte leicht den Kopf, um die Gedanken über Mrs Hoghs finanzielles Leben aus meinem Kopf zu bekommen. Mum hatte recht, ich sollte mir weniger Gedanken um das Leben anderer machen. Ich schenkte erneut den Fliesen zu meinen Füßen die Aufmerksamkeit. Angekommen bei 37 riss mich jedoch die Stimme von Mrs Hodgh aus meiner Konzentration und ich sah zu ihr auf. "So Mary hier sind schon mal dein Stundenplan und deine Bücherliste. Mrs Johnson möchte dich allerdings nochmal sprechen, bevor du in den Unterricht gehst, also bitte." sie deutete auf die Tür direkt neben mir an der ein Messingschild auf dem in eingravierter Schrift 'Direktorin Johnson' stand. Widerwillig stand ich auf und nahm meinen Stundenplan sowie meine Bücherliste von Mrs Hodgh entgegen. Sie lächelte mich übertrieben an und erwarte wohl ein Dankeschön. Das bekam sie jedoch nicht. Sie schickte mich mit diesen ätzenden Blättern in meine persönliche Hölle.
Die Schule.

Ich drehte ihr den Rücken zu und ging zu der Tür, neben der ich bis vor wenigen Sekunden noch gesessen hatte. Ich klopfte zweimal und trat ein, sobald ich das so typisch streng klingende "Herein!" von Direktorin Johnson hörte. Ich schloss die Tür leise hinter mir und blieb unschlüssig im Raum stehen. "Ah Mary schön dich zu sehen! Komm setz dich doch bitte kurz." Ich sah kurz auf den Stuhl vor dem ausladenden Schreibtisch und setzte mich dann wortlos. Die Unordnung auf ihrem Schreibtisch schien dieselbe wie vor einem Jahr zu sein. Papiere stapelten sich über einander. Post its mit Erinnerung oder Erledigung schienen ihren Computerbildschirm fast restlos zugeklebt zu haben. Drei Tassen standen verteilt herum. Kurz um, es fühlte sich so an, als wäre ich nie weg gewesen. Nachdem ich ihren Schreibtisch unter die Lupe genommen hatte, tat ich dasselbe mit der Frau, die mir gegenüber saß. Mrs Johnson stammte aus Afrika und war dementsprechend eine farbige. Ihre lockigen Haare trug sie neuerdings nicht mehr offen, sondern locker hoch gesteckt. Ebenfalls fiel mir auf, das ihre schwarzen Haare stärker von grauen Strähnchen durchzogen war, als noch vor einem Jahr. Der Rest an ihr schien jedoch gleich geblieben zu sein. Sie trug eine weiße Bluse, einen Blazer und dazu vermutlich eine einfache Jeans. "Es freut mich dich wieder zu sehen. Wie geht es dir und deinen Eltern?" ihre Stimme nahm einen über freundlichen Ton, an den ich mittlerweile nur zu gut kannte. "Bestens...", antwortete ich nur knapp und spielte mit den Blättern in meinen Händen. "Ich verstehe, wie schwer es für dich sein muss nach dem Tod deines Bruders. Umso überraschter war ich als ich gehört habe das du dieses Jahr wieder kommen willst. Darf ich fragen, wieso du nicht auf eine andere Schule wolltest?" mit leicht schief gelegten Kopf sah die Frau mich fragend an. "Ich wusste, das sie mich nicht eine Klasse wiederholen lassen würden. Jede andere Schule hätte das gemacht." antwortete ich wahrheitsgemäß und sah ihr jedoch nicht ins Gesicht. Sie hätte den Schmerz in meinem Blick sofort gesehen. Mrs Johnson schien ziemlich überrascht über meine Antwort. Vermutlich erwartete sie etwas wie: "Meine Therapeutin hat mir geraten sich meinen Ängsten zu stellen und um die Trauer besser zu verarbeiten wäre es auch noch sinnvoll an meine alte Schule und die meines verstorbenen Bruders zurückzugehen." Doch auf so was konnte sie lange warten. Ich war nicht hier um über den Selbstmord meines älteren Bruders hinwegzukommen. Ich war hier um einen guten Abschluss zu machen. Mrs Johnson räusperte sich und man sah ihr an, wie unangenehm ihr die entstandene Situation war. "Naja, wie dem auch sei, wenn du irgendwas brauchst oder reden möchtest, kannst du selbstverständlich jederzeit zu mir kommen." erklärte sie mit einem starken nicken. "Danke das weiß ich zu schätzen." bedankte ich mich und brachte sogar ein halbherziges Lächeln zustande. Sie lächelte und stand dann auf. Ich tat es ihr gleich. Super gemacht Mary. Jetzt hast du den Tag von Mrs Johnson auch noch gerettet da du gelächelt hast. Höhnte meine innere Stimme. Ich war es mittlerweile gewohnt Leuten ein besseres Gefühl zu geben, wenn ich so tat, als würden ihre Hilfsangebote mir das Leben erleichtern. Ich verabschiedete mich von ihr und verließ das Büro. Nun hieß es lächeln und so tun als wäre alles okay mit mir und der Welt.

Doch das war es nicht.
Das war es schon lange nicht mehr.
Allerdings würde sich dies bald ändern. Und das es schneller gehen würde als gedacht, wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

C'est la vie (Pausiert)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt