Kapitel 16

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Ich schreie auf. Mein Körper ist schweissgebadet und ich zittere am ganzen Leib.

„Ich lebe...Ich lebe!" keuche ich, als hätte ich gerade einen Marathonlauf hinter mir.

Meine Eltern und der Arzt stürzen sich besorgt zu mir. Meine Mutter nimmt meine Hand in ihre. „Mirjet? Alles in Ordnung?", sie ertastet meine Stirn und ich fange leise an zu weinen.

„Ich träume immer so schlimm und ich weiss nicht was ich machen kann. Es gibt kein Entkommen für mich, versteht ihr das? Ich werde sterben! Ich werde sterben!", ich zittere so fest, dass ich das Gefühl habe, mein Körper spaltet sich bald in zwei Teile.

Meine Mutter steht mit beiden Händen an den Kopf auf. Sie macht ein paar Schritte im Zimmer umher und bleibt dann stehen. Denn Blick fest auf mich gerichtet.

„Hör auf so was zu sagen!", sie zeigt bedrohlich mit dem Zeigefinger auf mich.

„Hör auf zu sagen, dass du sterben wirst!", die blanke Wut und Trauer ist in ihrem Gesicht geschrieben. Sie fängt an los zu brüllen und zu weinen.

„Du wirst nicht sterben Mirjet! Hast du verstanden! Du wirst nicht sterben! Du wirst kämpfen! Du wirst mit unserer Unterstützung kämpfen! Hör bitte auf deinen Mut zu verlieren. Zeig Stärke, jetzt wo du sie wirklich brauchst. Ich verstehe nicht, wieso du den Teufel an die Wand malst, du hast gute – nein – sehr gute Chancen. Du wirst geheilt werden, aber verlier doch deine Tapferkeit nicht! Das hast du doch sonst auch nie verloren..." Mama fällt weinend in die Knie und mein Vater eilt sofort zu ihr rüber und nimmt sie in die Arme.

„Ich will nicht mit ansehen, wie meine Tochter den Bach runtergeht und ich Nichts dagegen tun kann!", Sie schluchzt in die Arme meines Vaters, der sie mittlerweile wieder aufgerichtet hat.

„Ich werde das niemals zulassen Adem!", „Beruhig dich Schatz, soweit wird es nie kommen." Mein Vater gibt meiner Mutter einen Kuss auf die Stirn und sie setzen sich an meinen Bettrand. Beide schauen mich mit rotunterlaufenen Augen an. Ich habe sie noch nie zuvor in meinem Leben in solch einem Zustand gesehen. Was habe ich nur getan?

Herr Hader der die ganze Situation beobachtet hat, wendet sich zu mir und schaut mich an: „Mirjeta, wir fangen bald mit der Chemo an.", er kommt zu mir ans Bett und nimmt meine Hand in seine.

„Es gibt grosse Chancen auf Heilung! Sei nicht pessimistisch, mach dich nicht kaputt! Denk' positiv und mach dich nicht zusätzlich fertig. Es spielt sich alles hier drin ab, das ist der Schlüssel", er zeigt auf seinen Kopf und lächelt mich ermutigend an.

Ich wusste, dass ab diesem Nachmittag sehr schwere Tage auf mich zukommen werden, jedoch ahnte ich damals noch nicht, dass sie so einen Ausmass haben werden.

„Du musst stark bleiben. Für uns. Für deine Familie!", meine Mutter kommt auf mich zu und nimmt meinen Kopf in ihre Arme.

Wie fühlt es sich als Mutter an, dass eigene Kind leiden zu sehen und nichts unternehmen zu können? Wie schlimm muss das wohl sein? Für einen solchen Schmerz gibt es keine Beschreibung, da bin ich mir sicher. Es ist schlimm mit Krebs diagnostiziert worden zu sein, aber noch schlimmer ist es, ein Kind zu haben, das Krebs hat.

„Doktor Hader?", ich wende mich dem Arzt zu.

„Ja Mirjeta?"

„Wo waren Sie, als ich Zuhause zusammengebrochen bin?", ich lächle ihn unsicher an.

Er grinst und seine strahlend weisse Zähne kommen zum Vorschein: „Ich hatte an diesem Abend ein Lehrergespräch."

„Also haben Sie mich nicht vergessen?"

Meine Eltern und Herr Hader fangen an zu lachen und den Kopf zu schütteln.

„Niemals würde ich dich vergessen Mirjeta!", er drückt meine Hand noch fester und mein Herz blüht auf.

Meine Eltern gehen gemeinsam mit Herr Hader in das Gesprächszimmer nebenan um alles rund um die Chemo zu besprechen und ich verweile währenddessen alleine im Krankenzimmer.

Ich schaue in meiner Kommode nach, ob ich etwas zu lesen finde und tatsächlich werde ich fündig.

Ich falte ein zusammengefaltetes Papier auseinander. Da das Papier leicht bräunlich ist und die Schrift kaum zu lesen ist, gehe ich davon aus, dass es schon etwas länger da liegt. Ich fange langsam an zu lesen:

„Jeden Tag stehen wir aufs Neue auf. Jeden Tag sind wir gesund. Haben Kraft und die nötige Stärke weitere 24 Stunden zu erleben. Doch was ist wenn wir all das nicht haben? Was ist wenn wir erfahren, die Zeit rennt uns schneller davon als gedacht? Was ist wenn wir schwach werden und wir das Leben nicht von Anfang an geschätzt haben? Was ist wenn wir die wertvolle Zeit mit den falschen Menschen verbracht haben? Was ist wenn wir zu früh gehen? Schenken wir diesen Gedanken Zeit? Nein, tun wir nicht. Wir sehen alles als selbstverständlich. Verlieben uns in die Falschen und klammern so lange dran, bis wir merken, wir werden nur noch schwächer. Wir geben diesen Menschen Zeit, die es nicht verdient haben und vernachlässigen die, die es verdient hätten. Lassen Dinge in unser Leben eintreten, die keinen Platz verdienen und lassen das Gute einfach gehen. Wir sind blind. Blind vor all diesen schönen Dingen, dass wir gar nicht bemerken: Nicht alles was glänzt, ist Gold..."

Ich höre auf zu lesen und wische schnell meine Tränen weg, ehe ich weiterlese:

Fati im ( Mein Schicksal )Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt