Ich habe mich entschieden. Dafür, dass ich Arton besuche. Ich weiss nicht wie seine Mutter und seine ältere Schwester Majlinda auf mich reagieren werden, aber das ist mir egal. Ich muss meinen Engel sehen. Meinen Schutzengel. Ich schaue auf die Strasse hinaus. Enver fährt in hoher Geschwindigkeit zum Krankenhaus ausserhalb der Stadt. Sie besitzen einen weissen Jeep. Enver hat mir erzählt, dass sei ihr Familienauto. Es ist sehr beeindruckend. Immer wieder aufs Neue erstaune ich, wie viel Geld diese Familie besitzt.
Es regnet in Strömen. Ich verfolge die Wassertropfen, welche die Fenster runter flitzen. Mir dreht sich der Magen um, und eine Woge der Übelkeit steigt in mir auf. Ich glaube nicht, dass ich in der Lage bin seinen Verlust zu ertragen. Ich lasse mich im Sitz zurücksinken und stimme mein Mantra wieder an. Bitte mach, dass es ihm gut geht. Bitte mach, dass es ihm gut geht.
Enver hält auf dem Parkplatz des Krankenhauses an. Zusammen steigen wir aus und laufen still schweigend aneinander zum Krankenhaus. Nie im Leben hätte ich gedacht, dass ich mit ihm Arton besuchen gehe. Drinnen angekommen entdeckt er sofort seine Familie.
„Mirjeta, meine Frau und Majlinda sind im Restaurant. Willst du schon mal vorgehen?", Enver sieht mir tief in die Augen. Ich nicke stumm und schaue ins Restaurant rein, sehe jedoch seine Familie nicht.
„Er ist im sechsten Stock...", ich nicke und mache mich beklommen im Laufschritt auf dem Weg.Der Aufzug steigt mit einer lähmenden Langsamkeit und bleibt in jedem einzelnen Stockwerk stehen. Mit meiner Willenskraft versuche ich, ihn dazu zu bewegen, dass er schneller fährt, und starre die ein- und aussteigenden Leute finster an, die Schuld daran sind, dass ich nicht zu meinem Engel gelange. Schliesslich öffnen sich die Türen im sechsten Stock, und ich stürze zum Zimmer 312. Die Intensivstation ist nüchtern, steril und sehr funktional mit einer Fülle an piepsenden Apparaturen und Ärzten und Schwester, die lediglich im Flüsterton miteinander sprechen. Im Moment werden drei Patienten auf der Station versorgt. Arton liegt im hintersten der Betten. Arton...
Er wirkt winzig in dem riesigen Hightech-Bett inmitten all der Apparaturen und Geräten. Es ist ein Schock, ihn so zu sehen, so verletzlich und fragil. In seinem Mund steckt ein Schlauch, und er ist an mehrere Infusionen angehängt, durch die irgendwelche Flüssigkeiten in seinen Körper tropfen. Sein Zeigefinger steckt in einer kleinen Klemme. Ich frage mich wozu sie dient. Sein in rot eingegipstes Bein liegt auf der Bettdecke. Auf einem Monitor wird sein Herzschlag überwacht. Ganz regelmässig schlägt es. Langsam nähere ich mich seinem Bett. Ein breiter Verband verläuft über seine Brust und verschwindet zur Hälfte unter dem dünnen Laken, der seine Blösse bedeckt. Erst jetzt sehe ich, dass der Schlauch in seinem rechten Mundwinkel zu einem Beatmungsgerät führt, dessen rhythmisches Zischen sich mit dem Piepsen des Herzmonitors zu einem monotonen Takt vereint. Im Sichtfeld des Monitors verlaufen vier horizontale Linien, deren gleichmässigen Ausschläge unmissverständlich zeigen, dass Arton noch unter uns weilt. O Arton..
Obwohl sein Mund von dem Atemschlauch verzerrt ist, wirkt es friedlich, so als würde er tief und fest schlafen. „Darf ich ihn anfassen?", frage ich und greife zögerlich nach seiner Hand. „Natürlich", sie lächelt freundlich. Schwester Rosella steht auf ihrem Namensschild. Sie muss um die dreissig sein und hat tiefdunkle Augen.
Ich wende meinen Blick wieder Arton's wunderschönem Gesicht zu, welches mit leichten, roten Kratzer überseht ist. Ich drücke seine warme Hand fest, während sich Tränen in meinen Augen anstauen. Ich lege meinen Kopf vorsichtig an seinen Arm und beginne haltlos zu schluchzen. „O Arton, bitte werd wieder gesund", flüstere ich "bitte".
Was für eine Ironie, dass ich ausgerechnet jetzt, da er nicht bei Bewusstsein ist und mich nicht hören kann, den innerlichen Drang verspüre, ihm zu sagen, wie sehr ich ihn liebe. Dieser Junge, dieser Mann, dieser Engel war die grosse Konstante in meinem Leben, mein Fels in der Brandung. Und das wird mir erst jetzt wieder klar. Ich kenne ihn nicht lange, ich weiss nicht viel über ihn, trotzdem ist er mein Freund...und ich liebe ihn von ganzem Herzen. Die Tränen kullern mir über die Wangen. Bitte, bitte werde bald wieder gesund. Ich streichle vorsichtig seine zarte Haut, wickle seine weichen Haare sachte um meinen Zeigefinger, während meine Tränen auf sein Bettlacken runter tropfen.
Die Türe geht auf und ich blicke nach vorn. Eine mir bekannte Person kommt langsam hinein. Das ist Majlinda, die Schwester von Arton. Sie schaut anders aus. Ich staune nicht schlecht, als ich ihren wohlgeformten Körper sehe. Man merkt ihr kaum an, dass sie Mutter geworden ist. Ihre dichten, schwarzen Haare trägt sie gelockt. Sie ist ungeschminkt und sieht sehr müde aus, nichts desto trotz ist sie eine Augenweide. Ich richte mich sofort auf, lasse jedoch Arton's Hand nicht los. Schnell versuche ich noch meine Tränen wegzuwischen.
Majlinda tritt ans Fussende des Bettes und schaut missbilligend meine Hand an, die Arton's Hand umfasst. Ihre hellblauen Katzenaugen schauen mich teuflisch an. „Verschwinde sofort von hier!"
Mein Herz lässt einen Schlag aus. Wie bitte?
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Fati im ( Mein Schicksal )
Romance„Bitte geh nicht! Bitte! Verlass mich nicht!" Flehe ich ihn schluchzend an. „Du hast mir nichts gesagt, nichts! Du wusstest, was ich für dich empfinde und dass ich durch die Hölle gehe für dich und du hast mir monatelang deine Krankheit verschwiegen...