Kapitel 30

2.7K 139 37
                                    

Es ist ein regnerischer Abend. Die Patienten sind alle in ihrem Zimmer und Besuch ist nicht mehr erlaubt. Die Gänge im Krankenhaus werden langsam aber sicher unheimlich. Nicht nur die Gänge, auch ich fühle mich unheimlich. Ich bin ein Geist. Dieser Gedanke, dass ich ein Geist bin, verzaubert mich auf eine Art und Weise, jedoch will ich wieder zurück in die Realität. Zurück in meinen Körper. Ich setze mich auf den kalten, harten Boden hin und lausche den Wänden zu. Diese Wände haben bestimmt mehr Gebete gehört, als die einer Kirche oder einer Moschee. Ist das nicht komisch? Erst wenn es uns beschissen geht, wenden wir uns an Gott. Wo bleibt die Dankbarkeit der Menschen, wenn sie gesund sind? Wieso wenden sie sich erst an Gott, wenn sie wissen, dass die Zeit gekommen ist?

Ich höre schnelle Schritte in meine Richtung laufen, mein Herz fängt sofort den gleichen Rhythmus an, anzunehmen. Tab, Tab, Tab, Tab. Ganz schnell. Ich habe das Gefühl, zu wissen was in den kommenden Sekunden passiert. Meine Augen wollen sich schliessen, jedoch lässt es meine Angst nicht zu. Wie gebannt schaue ich in die Richtung, woher die schnellen Schritte kommen. Am Ende des Ganges erscheinen zwei junge Krankenschwestern, die geradeaus an mir vorbei laufen ohne mich zu beachten. Eine von ihnen betreut mich. Sie hat mir immer mein Frühstück gebracht und mich bemitleidend angeschaut.

„Mirjeta's Eltern tun mir richtig leid...", sagt sie zur anderen, mir unbekannten Krankenschwester.

Als ich meinen Namen höre, stehe ich blitzartig auf und folge ihnen.

„Was hat denn diese Mirjeta Bajrami?"

Sie laufen gemeinsam den Gang zum Aufenthaltsraum hinunter und ich folge ihnen auf Schritt und Tritt. Dabei fühle ich mich wie das fünfte Rad am Wagen. Nicht mitreden, einfach dabei sein.

„Sie hat Brustkrebs. Ein sehr schönes, junges Mädchen. Man merkt ihr das Leid richtig an...", der Blick meiner Krankenschwester verdüstert sich.

Sie holen sich gemeinsam einen Kaffee und setzen sich am freien Tisch. Die Krankenschwester, die mich betreut, hat ihre langen schwarzen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie hat eine schöne Bräune. Ich denke sie ist Türkin und etwa Mitte zwanzig. Die andere Krankenschwester hat braune Haare und einen richtigen Lockenkopf. Sie schaut ganz süss aus und mit ihren grossen, blauen Augen sieht sie aus wie eine Maus.

„Echt?", sie hält sich die Hand geschockt vor dem Mund.

„Ja, wirklich...", meine Krankenschwester gräbt ihr Gesicht frustriert in die Hände und die andere schaut resigniert Löcher in die Luft.

„Das mag ich nicht...", sagt sie langsam und kaum hörbar.

Meine Krankenschwester schaut zu ihr hoch.

„Sterben. Junge Menschen langsam sterben sehen...", sie hält ihren Kaffee fest in ihren Händen. Tränen stauen sich in ihren Kulleraugen an.

Meine Krankenschwester nickt „Jeder Beruf hat seine Vor- und Nachteile Anika..."

„Wie sieht ihr Zustand aus?", fragt Anika nun plötzlich.

„Sie liegt im Koma. Sie hat gerade ihre erste Chemo. Ihr fehlt glaube ich irgendwas..."

„Wie meinst du das, Aylin?"

„Ihr fehlt glaub ich der Mut. Die Kraft. Die Hoffnung...", sie wischt ihre angestaute Träne weg ehe sie weiter redet „Wenn man Hoffnung hat, hat man den halben Weg schon hinter sich..." „Das ist so traurig" sagt Anika leise.

„Ich gehe mal nachschauen, wie es ihr geht...", Aylin steht auf und lässt ihre Freundin alleine. Es rührt mich unheimlich, dass sich fremde Menschen so um mein Wohlergehen kümmern. Mit zitternden Beinen laufe ich Aylin im düsteren Gang nach. Sie führt mich geradeaus in den Lift und zusammen stehen wir nun da und warten bis es im 11. Stock ankommt.

„Bitte Allah, hilf ihr...", sagt sie und hält sich mit beiden Händen an den Kopf. Ich streichle ihr über den Rücken, auch wenn sie nichts spürt. Ich will ihr das Gefühl geben, dass ich noch da bin. Sie soll es nur fühlen. Mit dem Herzen fühlen.

„Danke. Danke! Ich weiss nicht wieso dir meine Gesundheit so am Herzen liegt, aber danke dir!", murmle ich und umarme sie. Wenn sie es doch nur fühlen könnte!

Als der Lift stoppt läuft sie mit schnellen Schritten in die Richtung einer Tür mit der Nummer „119". Ich weiss nicht wieso ich darauf achte, aber diese Zahl hat eine Bedeutung. Ich spüre das.

Aylin drückt langsam die Türklinke runter und huscht hinein. Ich folge ihr mit langsamen Schritten. Mein Körper ist angespannt. Ich habe das Gefühl, kotzen zu müssen. Meine Beine zittern und ich fühle mich unwohl. Will ich das wirklich? Will ich wirklich mein halbtotes „ich", sehen?

Meine Gedanken werden von einem spitzen Schrei unterbrochen.

„Nein! Oh Gott! Doktor, Doktor!"

Fati im ( Mein Schicksal )Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt