Kapitel 38

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„Was? Nein! Wieso vermissen?", die pure Entrüstung packt mich. Mein Herz fängt sofort an zu rasen und meine Nackenhaare stehen auf.

Es gibt keinen Grund mich zu vermissen? Werde ich...werde ich... Ich traue mich nicht den Gedanken zu Ende zu sprechen. Kennt ihr das Gefühl? Ihr wisst was passiert, aber ihr traut euch nicht. Ihr traut euch nicht soweit zu denken, weil die Hoffnung immer noch da ist. Man weiss es, aber man hofft, man glaubt.

Blendjona und Edon nicken mir zu, als Andeutung, dass sie nun gehen. Wie können sie nur gehen? Wie können sie mich alleine lassen? Wieso wollen sie mir nicht beistehen? Ist das zu viel verlangt? Verlange ich zu viel?

„Hey...", rufe ich nach ihnen mit zitternder Stimme. Mama und Papa, die Arm in Arm laufen drehen sich zu mir um. Beide haben rote Augen und tiefe, schwarze Augenringe. Erschöpft. Ich habe sie erschöpft. Habe ihnen den letzten Willen, den letzen Hoffnungsschimmer weggenommen.

Meine Mama pflegte zu sagen „Ishallah nuk um bon zoti me v'dek evladi para meje (Ich hoffe, Gott lässt meine Kinder nicht vor mir sterben...)". Mama, ich habe ihr die letzte Kraft geraubt. Ihr jegliche Hoffnung weggenommen. Ihr Leben kaputt gemacht. Sie wird kein geregeltes Leben mehr führen können.

„Ka po shkoni? (Wohin geht ihr?) Wollt ihr mir nicht beistehen?", meine Lippen beben. Wollen Sie das nicht? Steht man der sterbenden Tochter nicht bei? In den Filmen stehen sie den anderen auch bei! Wieso nicht bei mir?

Edon und Blendjona laufen schnell hinaus. Ohne mich eines Blickes zu würdigen. Ich höre, wie Edon nachdem die Tür zugefallen ist, laut anfängt zu weinen und Blendjona ihn versucht zu trösten. Auch Papa und Mama gehen ohne etwas zu sagen aus dem Zimmer raus.

„Nein! Wieso tut ihr mir das an?", ich versuche vom Bett aufzustehen, aber schaffe es nicht. Ich schreie nach meinen Eltern, schreie nach meiner Mama, nach meinem Papa, aber sie hören mich nicht. Sie wollen mich nicht hören.

„Wieso lasst ihr mich alleine?", frage ich immer wieder. Ich schlage um mich.

„Wieso tut ihr mir das an?", schreie ich so laut ich kann. Ich will, dass sie mich hören. Dass sie hören, wie aufgelöst ich bin. Sie sollen denselben Schmerz spüren, wie ich es tue. Den seelischen Schmerz.

„Habe ich es nicht verdient? Denkt ihr, ich möchte sterben?"

Ich schliesse meine Augen. Sie brennen. Sie brennen höllisch. Man sagt, dass die Augen tränen, um das Gesehene zu vergessen. Dass die Sicht danach besser wird. Die Sicht, dass meine Familie mich in der schwersten Zeit alleine gelassen hat?

Meine Gedanken wandern im Kreis. Ich versuche meine Gefühle einzuordnen. Es ist bitter, aber es stimmt. Wir sind immer alleine. Wir kommen alleine zur Welt und sterben alleine. Ich öffne meine Augen und erschrecke.

„Was? Was?", Eine Gänsehaut überfliegt meinen gesamten Körper. Ich befinde mich auf einem Friedhof. Wie bin ich hierhergekommen?

Der Himmel ist dunkelgrau. Die Bäume sind so schwarz wie die Nacht und es windet. Automatisch laufen meine Beine ungewollt in eine Richtung. Ich versuche sie unter Kontrolle zu kriegen, doch schaffe es nicht. Sie hören nicht auf mich.

Tränen kullern mir über die Wangen. „Halt Stopp!", ich will nicht weiterlaufen. Voller Befangenheit schaue ich um mich. Ich kenne diesen Friedhof! Das ist unserer.

Ich laufe an mehrere Gräber vorbei. Darauf die Gesichter von Jugendlichen, von Kindern. Was soll das? Ich will wieder in mein Krankenbett! Meine Beine halten vor einem Grab an.

„Mirjeta Bajrami 1999-2015"

Fati im ( Mein Schicksal )Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt