Kapitel 42

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Allys Sicht:

"Hast du die Milch und das Mehl mitgebracht?", frage ich Marah. Sie sieht mich verwirrt an. "Ich habe dir doch geschrieben." Sie schlucke. "Hast du es nicht gelesen?" Sie schüttelt den Kopf und sieht runter auf ihre Füße. "Was ist?", fragt Marco sie mit gerunzelter Stirn. Erneut schluckt sie schwer. "Jemand hat mein Handy und meine Kopfhörer gestohlen, als ich nach dem Training duschen war.", murmle sie. Marco sieht sie etwas böse an. "Wie konnte das denn passieren? Ich habe dir schon tausend mal gesagt, dass du dein Zeug in das Schließfach legen sollst.", "Aber es ist ja niemand da, außer ich.", murmelt sie leise. "Na offenbar wirst du trotzdem beklaut. Das hast du dir jetzt selbst zuzuschreiben. Ich habe dir gesagt, dass du deine Sachen einschließlich sollst." Marco steht wütend auf und verlässt die Küche. Ich sehe ihm seufzend hinterher. "Nimm es ihm nicht übel. Er hat viel Stress in letzter Zeit. Benutz erst einmal dein altes Handy, okay? Wir schauen mal, ob wir dir schnell ein neues besorgen können." Marah nickt bedrückt. "Komm mal her, mein Schatz." Ich breite die Arme aus und gehe etwas auf sie zu. "Willst du reden?", "Worüber?", fragt sie mich und kuschelt sich an mich. Ich seufze. "Denk nicht, dass ich dumm bin, Schatz. Ich bin deine Mama und ich kenne dich besser als sonst irgendwer. Du bist sehr verschlossen geworden. Das fällt mir schon länger auf. Aber du redest ja nicht mit mir. Ich mache mir Sorgen, verstehst du?" Sie antwortet mir nicht, kuschelt sich einfach weiterhin an mich. "Mom?", "Ja?", "Erzählst du mir eine Geschichte?" Ich runzle etwas die Stirn. "Eine Geschichte? An was für eine hast du gedacht?" Sie löst sich etwas von mir und sieht mich an. "Zum Beispiel die Geschichte des Baumes im Garten? Und der von Bibbel?" Oh nein. Ich drücke etwas die Lippen aufeinander. "Marah, ich-", "Bitte.", fleht sie mich an. Ich seufze und nehme ihre Hand. "Komm mit." Ich führe sie nach draußen zu der Bank, die im Kreis unter dem Baum um den Stamm herum steht und setze mich hin. "Bevor ich mit dir und Hannah schwanger wurde, war ich schon einmal schwanger. Früher dachte dein Vater, dass er zeugungsfähig sei, weshalb er vor mir immer behauptet hat, dass er keine Kinder mehr will. Für ihn war es damals sehr schwer, denn er wollte sehr wohl noch Kinder und ich sowieso. Und das wusste er. Er hat es nicht übers Herz gebracht, es mir zu sagen, aber dann hielt ich eines Tages den positiven Schwangerschaftstest in meiner Hand. Ich hatte Angst vor Papas Reaktion, wenn ich ihm sage, dass ich ein Kind erwarte. Und die Angst war berechtigt, denn euer Vater ist sehr wütend geworden. Er hatte noch immer im Kopf, dass er zeugungsfähig war und dachte dann, dass ich mit einem anderen Mann geschlafen habe. Er hat mir dann von seiner Zeugungsfähigkeit erzählt und für mich ist eine Welt zusammen gebrochen, als er aus Wut das Haus verlassen hat. Ich habe die ganze Nacht geweint und gehofft, dass er nach Hause kommt. Am nächsten Tag war ich beim Arzt und habe die Bestätigung bekommen, dass ich tatsächlich schwanger bin. Papa war Zuhause und hat mir noch immer nicht geglaubt. Er sagte, dass er mir meinen Seitensprung verzeiht, wenn ich das Baby abtreibe, doch das konnte ich nicht. Schließlich war es unser Baby und ich bin nicht fremd gegangen." Ich seufze und zucke zusammen, als sich ein Arm um meine Taille legt. "Ich habe mich neu testen lassen, weil ich sichergehen wollte, dass ich wirklich zeugungsfähig bin.", beginnt Marco und lächelt mich etwas an. "Der Test ergab, dass ich sehr wohl in der Lage war, Kinder zu zeugen. Deine Mutter und ich haben sehr lange und intensiv miteinander geredet und uns wieder zusammen gerauft. Wir haben uns sehr auf das Baby gefreut und man hat später sogar schon den kleinen Bauch gesehen.", "Ja, und ich habe es schon spüren können. Jede noch so kleine Bewegung des Babys habe ich wahrgenommen.", sage ich leise und werde immer trauriger. Marco küsst meine Schläfe und redet weiter. "An einem Sonntag sind wir dann zu Oma und Opa gefahren. Tante Emma war zu diesem Zeitpunkt ein kleiner störrischer Teenie und Oma kam nicht klar. Deshalb ist Mama mit ihr in die Stadt gefahren, da verkaufsoffener Sonntag war. Und dann waren sie in der Bank, um Geld für's Mittagessen zu holen." Marco schluckt schwer und mir fließt bereits eine Träne über die Wange. "Die Bank wurde überfallen und einer der Männer hat mich getreten. In den Bauch." Ich schluchze kurz auf und wische mir die Tränen weg. "Ich habe sofort geblutet und diese Schmerzen waren schlimmer als jeder andere Schmerz, den ich in meinem ganzen Leben zu spüren bekommen habe. Ich wurde ins Krankenhaus gebracht und versorgt. Aber man konnte das Baby nicht retten." Marco zieht mich an sich und streichelt mir über die Haare. "Als Erinnerung an das Baby habe ich diesen Baum gepflanzt und Bibbel gekauft. Wir wollten nicht vergessen. Wir wollten neu angefangen, ja, aber definitiv nicht vergessen.", sagt Marco leise und küsst meinen Scheitel. "Wieso habt ihr uns das nie erzählt?", fragt Marah und auch ihr läuft eine kleine Träne über die Wange. "Es ist sehr schwer für uns, darüber zu reden. Das war es damals und das ist es auch heute. Dabei ist es so lange her. Achtzehn Jahre und vier Monate ist es her." Ich lächle traurig und nehme Marah nun in den Arm. 18 Jahre haben Marco und ich nicht mehr darüber gesprochen. Lediglich der schöne Baum und der wunderschöne Koi in unserem Teich hat uns all die Jahre an damals erinnert. Dementsprechend hat Marco nun auch den Kampf mit den Tränen verloren. Er lächelt mich ebenfalls traurig an und küsst wieder meine Schläfe. Das liebe ich so sehr an ihm. All die Jahre sind vergangen und er liebt mich trotzdem noch so sehr wie damals. Und das beruht auf Gegenseitigkeit. Ich liebe ihn ebenfalls immer noch mindestens genauso doll. "Ich liebe dich, Ally.", murmelt er. "Und ich dich.", antworte ich. Es tat gut darüber zu reden. Ich weiß nicht, weshalb wir so lange geschwiegen haben, aber es war falsch zu schweigen. Man muss immer über alles reden. Auch über schmerzhafte Erinnerungen.

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