Kapitel 45

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Marahs Sicht:

Flatternd öffnen sich meine Augen und ich entdecke vor mir meinen Vater. Er kniet neben mir, hat sich über mich gebeugt und redet auf mich ein. Ich höre aber nicht, was er sagt. Ich fühle mich benommen und meine Augen brennen unheimlich doll. Daddys Stimme wird klarer, langsam deutlicher. Ich kann hören, was er sagt, kann aber nicht antworten. "Marah, kannst du mich hören?" Ich nicke ganz leicht, um ihm zu antworten. "Ist alles okay? Rede doch mit mir." Ich mache kurz wieder die Augen zu und dann wieder auf. "Willst du aufstehen?" Ich nicke und lasse mir von Papa hoch helfen. "Was ist passiert?", krächze ich. "Du bist umgekippt.", "Ja, weil du verdammt nochmal nicht den Mund aufmachst.", "Lennard!", fährt Papa meinen Bruder an. Lenni schnaubt und verschränkt die Arme vor der Brust. "Ist doch wahr. Rede endlich, Marah! Sag ihm, wie toll es in der Schule ist!" Wieso ist er denn jetzt so? Wieso lässt er es nicht einfach. "Halt dich da raus. Ich habe dir oft genug gesagt, dass es okay ist.", "Okay? Marah, es ist alles andere als okay! Ja scheiße, die machen dich fertig! Die wollen dich am Boden sehen und du sagst, dass es okay ist? Nichts ist okay, Marah!", "Hör auf mich anzuschreien! Denkst du das ist einfach für mich? Denkst du mir geht es gut damit, dass mich die ganze fucking Schule nackt unter der Dusche sieht? Denkst du mir geht es gut damit, dass ich jeden Tag beleidigt werde? Und was glaubst du, hätte es geändert, wenn ich es Mom und Dad gesagt hätte? Es hätte nichts geändert! Und du kannst da auch nichts änder-", "Ruhe jetzt!", brüllt Papa dazwischen. Hannah und ich zucken zusammen und Lenni verdreht die Augen. "Wovon redest du?", fragt er Lenni und ist noch immer sehr gereizt. "Wieso fragst du ihn das jetzt?", frage ich aufgebracht. "Du hast jetzt Sendepause.", knurrt er mich an und sieht dann wieder zu Lenni. "Sie wird seit Jahren gemobbt, Dad. Und zwar von Hannahs ach so tollen Freunden. Und dieser Max aus ihrer Klasse hat sie jetzt nach dem Training beim Duschen gefilmt und es ins Internet gestellt. Und es kotzt mich an, dass Marah immer noch nicht ihren Mund aufmacht!", "Wieso hätte ich denn etwas sagen sollen, hm? Was hätten Mama und Papa schon dagegen machen können? Hätten sie in die Schule gehen sollen und mit Max schimpfen? Wohl kaum.", fauche ich. Papa neben mir atmet tief ein und aus. "Wenn hier nicht gleich Ruhe einkehrt und ihr nicht aufhört euch so an die Kehle zu springen, dann werde ich hier andere Seiten aufziehen, ist das klar?" Seine Stimme ist ganz anders als sonst. So wütend und bedrohlich. "Du gehst jetzt nach unten.", redet er weiter und Lenni murrt vor sich hin, während er mein Zimmer verlässt. "Du verzeihst dich mit deinem Hund nach draußen." Nun zeigt Dad auf Dale. Dieser nickt und verlässt nun auch mein Zimmer. "Und ihr beide werdet mir jetzt alles erzählen. Ihr wisst gar nicht, wie wütend ich bin." Hannah und ich sehen uns etwas ängstlich an. Es ist sehr lange her, dass wir Papa so erlebt haben. Da waren wir zehn, oder so. Und da haben wir den Fernsehen im Wohnzimmer mit Mamas Gymnastikball zerschossen. Da hat er ziemlich doll geschimpft, uns unsere Spielsachen weggenommen und tagelang nicht mit uns geredet. Zurecht. Der Fernsehen war ein Vermögen wert. Hannah setzt sich neben mich und Papa stellt sich mit verschränkten Armen vor uns. "Jenny und die anderen beleidigen Marah sehr oft. Und ich habe zugesehen. Ich habe sie nie verteidigt. Ich hatte Angst davor, dass sie mich dann auch beleidigen. Ich weiß, dass sie keine richtigen Freunde sind. Sie sind falsche Schlangen. Aber ich habe so große Angst. Es tut mir immer so leid, was sie zu Marah sagen. Sie ist meine Zwillingsschwester und ich sehe dabei zu, wie sie fertiggemacht wird." Hannah schluchzt laut. "Es tut mir so leid. Ich habe das alles einfach immer wieder zugelassen. Ich habe zugelassen, dass sie herkommen und sie Marah auch hier Zuhause beleidigen. Ich hätte das alles einfach verhindern können, hätte zu ihr stehen können, aber das habe ich nicht getan. Aus Angst. Ich bin ein Feigling.", "Und ich habe ihr gesagt, dass sie das auch nicht ändern soll. Ich wollte nicht, dass sie zu mir hält. Ich wollte nicht, dass sie auch so fertig gemacht wird wie ich. Ich wollte auch nicht mit euch reden, denn das hätte nichts gebracht. Wärt ihr in die Schule gegangen deswegen, dann hätten die mich nur noch mehr fertig gemacht, Dad. Ich bin auch immer recht gut damit klargekommen. Mir war es egal, okay? Aber dann hat Max mir mein Zeug geklaut und mich wohl gefilmt. Dale hat mitbekommen, dass Max es war und ihn gestern vor allen anderen gezwungen, sich bei mir zu entschuldigen und mir mein Handy wiederzugeben. Und dann hat Max das Video ins Netz gestellt und alle haben es gesehen. Deswegen bin ich von der Schule nach Hause und deswegen sind Hannah und Dale mir gefolgt. Bitte sei nicht sauer, dass wir einfach die Schule schwänzen. Es ist meine Schuld. Ich hätte einfach da bleiben sollen. Irgendwie hätte ich das schon überstanden." Papas Gesichtszüge werden weicher und er setzt sich neben mich auf mein Bett. "Du hättest dennoch mit uns reden müssen, Marah. Wir hätten irgendwas unternommen." Ich seufze frustriert. "Genau das ist es. Ich will gar nicht, dass ihr irgendwas unternehmt. Was hättet ihr schon machen können, was mir in irgendeiner Weise geholfen hätte? Richtig: nichts. Weißt du, Dad, es gibt Dinge, bei denen mir einfach niemand helfen kann. Und das ist so etwas." Papas Augen füllen sich langsam mit Tränen. "Du hättest trotzdem mit uns reden müssen. Mama und ich haben schon sehr lange das Gefühl, dass du uns anlügst, was die Schule betrifft, aber dass es so schlimm ist, hätte ich niemals gedacht. Wir dachten einfach, dass du ein paar Probleme mit den Jungs hast oder so." Ich verdrehe die Augen. "Das hätte ich Mama schon gesagt. Nicht unbedingt dir aber Mama schon." Papa steht auf und quetscht sich nun zwischen Marah und mich, um uns in seine Arme zu ziehen. "Ich habe euch ganz doll lieb, ihr beiden Zimtzicken. Redet in Zukunft mit mir. Wir sind alle eine Familie und wir halten alle zusammen, verstanden? Ich will hier keinen Streit, keine Unstimmigkeiten, nichts. Ich will, dass wir uns alle lieb haben. Und wir finden eine Lösung, was das Video betrifft. Den Wichser lasse ich nicht so einfach davon kommen." Hannah und ich schnappen entsetzt nach Luft. "Papa!", rufen wir gleichzeitig aus und er lacht kurz. "Auch ich sage so etwas manchmal." Er drückt uns beiden einen Kuss auf die Stirn und steht auf. "Ich werde jetzt einen guten Anwalt heraussuchen und dann sehe ich zu, dass dieses Video aus dem Netz verschwindet. Dieser Max wird sich wünschen, niemals meine Tochter auch nur angesehen zu haben." Mit diesen Worten verlässt auch er mein Zimmer. Und zurück bleibt die Hoffnung, dass dadurch nicht alles noch viel schlimmer wird.

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