Kapitel 4

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Lennis Sicht:

Ich höre wie die Tür im Hauswirtschaftsraum aufgeht und dann sind die Stimmen meiner Eltern zu hören. "Geh ins Bett, Schatz. Brauchst du Hilfe?" fragt Dad. "Nein, ich versuche es alleine." antwortet Mum ihm. "Na schön." seufzt Dad und kommt zu mir in die Stube. Ich sehe ihn kurz an, stehe dann aber auf und gehe an ihm vorbei. "Hey! Was ist los?" hält er mich auf. "Was los ist?" frage ich gereizt. Er runzelt verärgert die Stirn. "Wieso holst du Hannah ab und bringst sie zu ihrer scheiß Tanzschule, während du zu Marah sagst, dass sie warten soll, bis ich komme und sie hole?" "Weil ich nicht genug Zeit hatte. Pass mal auf, wie du mit mir redest, Freundchen!" "Wie ich mit dir rede? Willst du mich verarschen? Marah hat mich gefragt, ob du Hannah mehr lieb hast als sie! Findest du das fair? Ich nicht! Meine Fresse, Marah hat fast geweint deswegen! Und wer musste sie vom Gegenteil überzeugen? Ich! Und warum? Weil du nicht da warst. Und dann dachte ich: Alles gut, heute Abend kann er sie überzeugen. Aber nein! Du sagst, dass sie die Nacht bei Oma und Opa verbringen sollen. Das kotzt mich an, Dad! Du hättest der jenige sein müssen, der ihr sagt, dass er sie liebt hat. Aber nein, das musste ich übernehmen. Ich bin nicht ihr Vater, sondern ihr großer Bruder." brülle ich und mache auf dem Absatz kehrt, um nach oben in mein Zimmer zu gehen. Die Tür knalle ich lautstark zu und dann mache ich so laut es geht Musik an. Die können mich alle mal! Nach etwa 10 Minuten klopft es an der Tür, doch ich tue so, als hätte ich das nicht gehört. Die Tür geht auf und Dad kommt herein. Und er trägt Mum. Hä? Wieso trägt er sie? Ich runzle die Stirn. Dad ignoriert meinen Blick und setzt Mom auf meinem Bett ab. "Stell die Musik leiser." sagt Dad nur und verlässt mein Zimmer, die Tür schließt er auch. Ich setze mich auf und mache die Musik leise. "Wieso trägt Dad dich?" Sie lächelt und streicht mir durch die Haare. "Was hat er dir denn erzählt?" "Erzählt? Na dass du in der Schule die Treppe hinunter gestürzt bist." Sie lächelt wehmütig. "Mum?" frage ich nun etwas aufgebracht. Sie verschweigt mir etwas! Ich wusste es! Dad hat mich am Telefon belogen, das wusste ich sofort! "Ich hatte einen kleinen Unfall, mein Großer, es ist nichts weiter." Ich schüttle den Kopf. "Sag mir sofort was passiert ist!" fordere ich. "Ich hatte einen Unfall mit dem Auto. Ich bin nicht von der Treppe gestürzt." Mit klappt der Mund auf. "Autounfall? Und wieso erfahre ich das erst jetzt?" "Wir wollten nicht, dass du dir sorgen machst." "Und was ist jetzt genau mit dir?" "Es wird vermutet, dass ich querschnittsgelähmt bin." "Nein." sage ich und schüttle den Kopf. "Doch. Sie wollten mich noch im Krankenhaus behalten, aber das wollte ich nicht. Ich hatte irgendwie im Gefühl, dass ich Zuhause sein muss. Und mein Gefühl hatte recht. Mit dir stimmt etwas nicht. Was ist denn los?" "Nein, Mum, wir reden jetzt über die Scheiße, die du mir gerade gesagt hast!" Ich springe aufgebracht von meinem Bett und sehe sie an. Sie seufzt. "Ich war heute früh einkaufen, weil ich erst später in die Schule musste. Dein Dad ist normal zur Arbeit und ihr in die Schule, weshalb ich mich einfach entschieden habe, vor der Arbeit einzukaufen. Naja, auf dem Weg dort hin hatte ich halt einen Unfall und ich war ziemlich schlimm eingeklemmt. Jedenfalls musste die Feuerwehr kommen und mein Auto auseinander nehmen, damit ich dort herausgeholt werden kann. Mit mir war nichts weiter und ich hätte nur zu einer Routinekontrolle gemusst, aber ich habe meine Beine nicht mehr gespürt. Ich wurde dann mit dem Krankenwagen ins Krankenhaus gebracht und dann wurden halt ganz viele Untersuchungen gemacht. Die ergaben dann, dass ich wohl querschnittsgelähmt bin. Und falls ich doch noch irgendwie eine kleine Gehirnerschütterung habe, wollten sie mich zur Beobachtung noch dort behalten. Das wollte ich aber nicht." Ich setze mich neben sie. "Und nun? Was machen wir denn jetzt?" Sie lächelt und zieht mich in ihre Arme. "Mach dir da mal keine Sorgen. Meinen Job kann ich ganz normal weiter machen. Aber unser Haus muss etwas umgebaut werden." Sie seufzt. "Wenn ich an den ganzen Stress und vor allem an all den Dreck denke, der dabei entsteht, da könnte ich nur weinen. Dass ich aber nicht mehr laufen kann ist akzeptabel. Und weißt du warum? Weil ich Gott danke, dass er mich schon wieder vor dem Tod bewahrt hat und dass ich eine so wundervolle Familie habe." "Schon wieder? Wieso denn schon wieder?" hake ich verwirrt nach. "Du kannst dich an diese Zeit nicht erinnern. Da warst du noch ganz klein und hast noch in die Windeln gemacht." Sie grinst mich mit ihrem herzerwärmenden Mamalächeln an, was mich ebenfalls grinsen lässt. "Damals haben wir auch einen Autounfall gehabt. Wir haben für Weihnachten eingekauft. Dein Dad und ich haben noch nicht einmal zusammen gewohnt und trotzdem wollte ich unbedingt in seinem Haus ein wunderschönes Weihnachtsfest für die ganze Familie veranstalten. Aber wir wurden auf dem Rückweg verfolgt. Und dieses Auto hat uns dann von der Straße gedrängt. Wir sind gegen einen Baum gefahren und du hast so laut geschrien. Ich bin dann aber bewusstlos geworden. Als ich wach wurde wart ihr weg. Diese Leute haben deinen Vater und dich entführt. Wir wissen bis heute nicht weshalb und wer es war. Es hat uns sehr lange beschäftigt. Ihr wart so lange weg. Bis nach Russland haben Sie euch verschleppt. Du warst gerade mal 8 Monate alt. Ich habe in dieser Zeit, in der ihr wie vom Erdboden verschluckt wart, so sehr gelitten. Und auch damals, als ich mit dir schwanger war und noch auf der Straße gelebt habe. Ich hatte so viel Glück in meinem Leben. Und aus diesem Grund danke ich Gott, dass ich bei diesem Unfall lediglich mein Beingefühl verloren habe. Ich hätte schon wieder tot sein können. Und doch wurde ich wieder geschont." Ich lege meine Arme um sie. "Da bin ich froh drüber, Mum. Ohne dich hätte mein Leben keinen Sinn mehr." Sie lacht leise. "Erzähl es mir, Lenni, was ist los?" Ich seufze. Mum legt sich richtig hin und ich lege mich zu ihr. Mein Kopf liegt auf ihrem Bauch und sie streichelt meinen Kopf. Oh man, wie sehr ich das liebe! "Ich habe heute meine Matheklausur zurück bekommen." sage ich leise. "6?" "Nein, aber eine 5." murmle ich. Mum seufzt. "Ich mag Mathe sehr gerne. Wieso kommst du nicht zu mir und lässt dir von mir helfen? Ich habe dir so oft meine Hilfe angeboten." "Ich weiß. Vielleicht bin ich einfach doof." "Nein, Lenni, das bist du ganz bestimmt nicht. Du bist ein schlauer Kerl. Du hast einfach keinen Bock und dazu noch falsche Freunde. Das ist das Problem." Ich sehe zu ihr hoch. "Da ist doch aber noch etwas, oder?" Ich nicke. "Das mit Dad und Marah regt mich einfach auf." Mum seufzt und nickt. "Ja, das war ein wenig unüberlegt von ihm. Aber er hat gerade vor der Schule auf die Kinder gewartet, als er den Anruf vom Krankenhaus bekam. Er hat dann einfach Hannah zur Tanzschule gebracht, weil er schnell zu mir wollte und Hannah sonst nicht dort hingekommen wäre. Marah hingegen konntest du abholen und mitnehmen." Ich nicke. Jetzt, wo ich den richtigen Grund kenne, ist es besser zu verstehen. "Und was ist noch?" Wie macht sie das?! "Ich habe heute wieder Katniss gesehen. Zweimal. Und sie ist beide Male wieder weggelaufen, ohne auch nur einen Ton zu sagen. Ich weiß nicht wieso, aber das geht mir total gegen den Strich. Ich will, dass sie mit mir redet und nicht wegläuft!" Mum kichert und ich sehe sie verständnislos an. "Ich glaube, dass sie dir gefällt." "Klar tut sie das. Sie sieht total heiß aus!" Mum verdreht die Augen. "Ich meine das etwas anders. Ich glaube, dass du dich in sie verguckt hast." Nun lache ich laut auf. "Sicher nicht." "Ich kenne dich gut genug, um zu wissen, was du fühlst, Dicker." Wie ich es hasse, wenn sie mich so nennt. Aber so nennt sie mich eigentlich schon so lange ich denken kann. Wenn ich sogar noch länger. Aber sie hat diesmal garantiert nicht recht. Ich »vergucke« mich nicht! Ganz sicher nicht. Mum grinst mich nur vielsagend an. Ob sie doch recht hat? Fuck!

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