Tatsächlich hatte ich das erste Mal in meinem Leben selbst mein Schicksal in die Hand genommen, mich nicht immer nur gewehrt gegen das, was die Welt mir antun wollte, hatte das erste Mal den Stift selbst in die Hand genommen, um meine eigene Geschichte zu schreiben. Und ich war sich sicher, es war die richtige Entscheidung gewesen. Ab jetzt würde alles gut werden.
Wieder einmal stand ich mit gesenktem Blick vor dem Schultor, die Kapuze seines Pullis über den blonden Schopf gezogen. Mit jedem Schritt, den ich ging, wurde ich mir sicherer, dass ich die richtige Entscheidung getroffen hatte.
Die einzig richtige Entscheidung.
Ich spürte die Blicke auf mir, als ich den Schulhof überquerte, schockierte Blicke, überraschte Blicke. Keiner sprach mit mir, manche wichen sogar vor mir zurück, als ich ihren Weg kreuzte. Und alle schienen sie entsetzt. Ja, ich hob sich von der Masse ab, ich hatte einen Schritt gewagt, den sonst wohl kaum einer getan hätte. Einen Schritt, der endgültig war. Meine Eltern hatten entsetzt reagiert, schockiert und verzweifelt, waren in Tränen ausgebrochen. Sie verstanden nicht, warum ich es getan hatte, verstanden mich nicht. Sie wussten nicht, wie es mit ging, hatten es noch nie erstanden und würden es nie nachvollziehen können. Es war ein Schritt gewesen, eine Entscheidung, die ich ganz alleine getroffen hatte. Mit hoch erhobenem Kopf schritt ich nun durch die Leute, versuchte, sicherer zu wirken, als ich eigentlich war. Ich würde mich nicht länger verstecken. Mein Leben würde sich ändern, hatte sich eigentlich schon geändert. Geradewegs steuerte ich auf mein Klassenzimmer zu, vor dem schon die Hälfte der Schüler wartete. Etwas abseits der Anderen konnte ich Tobi stehen sehen, der in ein Gespräch mit einem Alpha vertieft zu sein schien, den ich selbst nur vom Sehen kannte. Sofort merkte ich, wie mein Körper sich verspannte. Ich hatte trotz meiner eigenen Situation gerade Angst um Tobi, der dem Alpha, den er selbst nicht einschätzen konnte, meiner Meinung nach viel zu nahe war. Tobi selbst wirkte aufgeregt, immer wieder wischte er sich seine Hände an der Hose ab. Aber dennoch schien er nicht so nervös wie sonst zu sein, er strahlte eine seltene Ruhe und Sicherheit aus, sah sich nicht wie so oft nervös um, stets auf der Suche nach Gefahren, auf der Suche nach Alpha. Daher bemerkte er mich auch erst, als ich kaum mehr ein paar Meter entfernt war. Er sah kurz auf, lächelte abwesend, während er seinen Blick streifen ließ. Schlagartig veränderte sich der Ausdruck seiner Augen, als er mich sah. Entsetzt entgleisten ihm für den Bruchteil einer Sekunde seine Züge, bevor er sich mit einem Wort von seinem Gesprächspartner verabschiedete und zu mir eilte. Ich lächelte ihn verlegen ratlos an, unsicher, was ich sagen sollte. Auch dem Braunhaarigen schienen die Worte zu fehlen.
»Stegi...«, flüsterte er entsetzt, »Wer war das?«
Kurz schlich sich ein Lächeln auf mein Gesicht, ein trauriges Lächeln.
»Niemand, Tobi. Das war niemand.«
Entsetzt und unverständlich konnte mein Gegenüber seinen Blick nicht von meinem Gesicht wenden, über dessen rechte Hälfte sich drei tiefe, fleischige Wunden zogen. Drei parallel liegende Schnitte entstellten mein sonst von den Alpha so geliebtes Gesicht so sehr, dass sie jeden Blick in ihren Bann zogen. Wieder versuchte ich, zu lächeln, doch es lächelte bloß meine linke Hälfte, rechts verzog sich mein Gesicht zu einer schmerzerfüllten Grimasse. Die frischen Wunden verhinderten, dass ich meine Gesichtszüge wie gewohnt kontrollieren konnte, es wirkte taub, fast abgestorben.
Die Erkenntnis schlich sich auf das Gesicht des Braunhaarigen.
»Du warst das, oder? Du hast dir das selbst angetan.«, stellte er ruhig fest. Ich nickte bloß und biss mir auf die Unterlippe, hatte Angst, wie ein so zerbrechliche Junge, wie es Tobi nunmal war, darauf reagieren würde. Zu meiner Überraschung jedoch wurde ich bloß wortlos in dessen Arme gezogen. Erleichtert klammerte ich mich an meinen Freund.
»Du bist so stark, Stegi. So verdammt mutig«, murmelte er traurig. In diesem Moment wusste ich, dass wohl Tobi mich mehr verstehen konnte als jeder andere. Tobi wusste, was ich durchmachen musste, wusste, wie ich mich fühlte. Und wie wahrscheinlich jeder Omega in unserer Situation hatte er schon einmal mit den selben Gedanken gespielt. Was ich getan hatte war bloß eine Reaktion auf all das, was täglich auf mich einprasselte, und das wusste auch mein bester Freund. Es war bloß ein Schutzmechanismus. Und Tobi sah als einer der Wenigen, dass diese Tat nicht von Feigheit zeugte, nicht von Versagen. Was ich getan hatte, was ich mir selbst angetan hatte, um mich zu schützen, hatte mehr Mut und Entschlossenheit gekostet, als je etwas zuvor in meinem Leben. Ich hatte mir selbst unter unglaublichen Schmerzen das Gesicht zerschnitten, war zusammengekauert in meinem eigenem Blut in der Badewanne gelegen, hatte einfach nur noch sterben wollen, tatsächlich mit dem Gedanken gespielt. Und dennoch hatte etwas in meinem Inneren weitergekämpft, etwas hatte mich dazu getrieben, ein zweites Mal das Messer an mir selbst anzusetzen, einen zweiten und sogar dritten tiefen Schnitt neben den ersten zu setzen. Ich hatte geschrien und geweint, hatte mich selbst gebissen, um den Schmerz besser ertragen zu können, hatte einfach nur noch aufgeben wollen. Allem ein Ende setzen. Und dennoch hatte ich weiter gemacht, hatte mich nicht aufgegeben, obwohl ich das Messer, das Einzige, was ich dazu gebraucht hätte, in der Hand gehalten hatte. Es wäre nur ein Schnitt gewesen, ein Schnitt an der richtigen Stelle und alles wäre vorbei gewesen. Aber ich war stark gewesen, wie ich es noch nie zuvor in meinem Leben hatte sein müssen und ich hatte geschnitten, hatte mich selbst entstellt, bis ich meinen eigenen Anblick nicht mehr ertragen konnte. Doch von nun an, so wusste ich, würden die Alpha mich nicht mehr so gerne ansehen. Sie würden nicht mehr von meinen filigranen Gesichtszügen schwärmen und angezogen werden, viel zu sehr würden sie von meinen Wunden und Narben abgeschreckt werden, die mein Gesicht nun verbargen und entstellten.
Von nun an würden sie mich in Ruhe lassen.
Ich hatte gesiegt.
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Daunted and Broken ~ #Stexpert ~ #Kostory ~ #Venation
FanficHauptnebenpairings: #Kostory, #Venation ~ Als Alpha ist es Tims Aufgabe, einen Omega zu finden, mit dem er für immer zusammenleben möchte und sich um ihn zu kümmern und ihn zu beschützen. Stegi jedoch hasst sein Schicksal, er möchte kein Omega...