60. Kuss

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Es war inzwischen fast zwanzig Uhr und mit jedem Meter, den ich und Tim in Richtung seines Hauses zurücklegten, wurde ich nervöser. Ich konnte selbst nicht einmal genau sagen, warum, schließlich hatte ich seine Väter schon heute morgen kennen gelernt. Und doch war es jetzt etwas ganz anderes, schließlich würde Tim mich ihnen jetzt wohl offiziell als seinen Freund vorstellen. Als wir keine halbe Minute mehr von seinem Haus entfernt waren, blieb Tim plötzlich stehen und zog mich an der Hand, die er die ganze Zeit über gehalten hatte, ein paar Schritte zur Seite in eine Nebenstraße. Dort fand ich mich innerhalb weniger Sekunden in Tims Armen wieder und spürte so stark, wie den ganzen Tag noch nicht, seinen Duft. Lächelnd lehnte ich mich an seine Brust und sah zu ihm hoch, auch wenn ich den Grund hierfür nicht wusste. Tims wundervolle Augen strahlten glücklich. Wie in Zeitlupe beugte der braunhaarige Alpha seinen Kopf immer näher zu mir und das alles kam mir wie in einem Film vor, viel zu perfekt. Keinen Zentimeter vor meinen Lippen hielt er inne und ich konnte seinen warmen Atem auf meinen Lippen spüren.

»Darf ich?«

Kurz wunderte ich mich über seine Frage, schließlich waren wir zusammen. Da gehörte es dazu, dass man sich küsste, oder nicht? Und selbst wenn wir nicht gebunden wären, hätte ich wohl nicht nein gesagt, dazu fieberte ich viel zu sehr dem Moment entgegen, wenn TIms Lippen meine wieder berühren würden.

Doch Tim schien immer noch Angst zu haben, etwas zu tun, was ich nicht wollte oder mich zu irgendetwas zu drängen. Und natürlich war ich ihm auch wirklich dankbar für seine Rücksichtnahme, wäre er nicht ganz so behutsam mit mir und all dem hier umgegangen, wäre es mir wahrscheinlich schon längst zu viel geworden.

Viel zu oft war ich schon an ähnlicher Stelle gestanden, in einer Seitengasse festgehalten und in die Enge gedrängt und war kurz davor gewesen, von einem Alpha geküsst zu werden. Und kein einziges Mal davon hatte ich es auch gewollt. Bis Tim gekommen war.

Und das war das erste Mal gewesen, dass ich einen Kuss genossen hatte, dass selbst die harmlosesten Berührungen eines Alphas mich nicht angeekelt, sondern glücklich gemacht hatten. Das erste Mal, dass ich mich beschützt und nicht bedroht fühlte von der eindrucksvollen, manchmal sogar ziemlich angsteinflößenden Aura, die von jedem Alpha ausging. Und genau deswegen, wegen all dem, was Tim ausmachte und was ihn von all den anderen Alpha unterschied, nickte ich jetzt, fast unmerklich, aber dennoch deutlich genug, dass Tim die letzten Millimeter überbrückte und ich seine warmen, trockenen Lippen auf meinen spürte. Vorsichtig verwickelte mich Tim in einen sanften Kuss und ich genoss jeden Moment davon.

Ja, ich genoss es, obwohl, oder vielleicht auch gerade weil, Tim alles an diesem Kuss lenkte und ich mich einfach darin fallen lassen konnte. Ich hatte nichts weiter zu tun als diesen Moment auszukosten und genau das tat ich auch. Kurz zögerte ich, bevor ich probehalber mit der Zunge über Tims Lippen fuhr. Leicht schmunzelte der Größere in den Kuss und sofort veränderte sich das Gefühl seiner Lippen, die nun nicht mehr trocken und rau, sondern weich und geschmeidig waren.

Als wir uns tatsächlich wieder voneinander lösten, hauchte TIm mir sogar noch einen letzten sanften Kuss auf die Lippen, die Nasenspitze, die Stirn und den Haaransatz. Ich lächelte und seufzte glücklich.

»Darauf habe ich schon den ganzen Tag gewartet«, murmelte Tim leise, was mich schmunzeln ließ.

»Hättest ja nicht warten müssen. Wir waren schließlich den ganzen Tag über zusammen.«

Tim grinste und schüttelte mit einem gespielten Augenrollen den Kopf.

»Hätte ich dich etwa vorhin küssen sollen? Vor einem Jungen, der soeben erfahren hat, dass seine Liebe mit jemanden zusammen ist, der ihn nur ausnutzen und ihm weh tun wird?«

Ich antwortete nicht und senkte bloß deprimiert den Kopf.

»Mik tut mir so leid«, murmelte ich und spürte im selben Moment Tims Hand in meinem Nacken. Reflexartig verkrampfte sich mein Körper kurz, entspannte sich aber sofort wieder, als Tim vorsichtig begann, meine Haut zu streicheln.

»Alles gut«, murmelte der Alpha kaum hörbar, bevor er wieder zum Thema zurückkam.

»Mir tut er ja auch leid. Ich habe aber auch Angst um Dennis.«

»Natürlich. Aber um Dennis mache ich mir weniger Sorgen als um Mik. Er hat vollkommen fertig gewirkt. Dennis hat ihm schon immer unglaublich viel bedeutet, auch unabhängig von jeglichen romantischen Gefühlen. Er hat fast schon panische Angst, dass Louis ihm weh tun wird. Mal ganz abgesehen von dem Liebeskummer. Wenn der beste Freund so ein Arschloch dir vorzieht ist das glaub ich ziemlich schlimm. Ich mache mir Sorgen, dass er das nicht aushält. Es wäre nicht das erste Mal, dass er unter irgendetwas zusammenbricht.«

Ein mulmiges Gefühl hatte sich in meiner Magengegend breit gemacht.

Tim drückte mich leicht von sich und sah mir ernst in die Augen.

»Glaubst du, Mik würde sich etwas antun? Aus Verzweiflung?«

Ich biss mir auf die Unterlippe, bevor ich zögerlich mit den Schultern zuckte.

»Ich weiß nicht. Ich würde es nicht ausschließen. Du hast ihn gesehen. Wir müssen morgen Nachmittag unbedingt etwas mit ihm machen. Ich glaube nicht, dass es gut wäre, ihn allzu viel alleine zu lassen. Am besten so beschäftigen, dass er gar nicht zum Nachdenken kommt. Normalerweise war es immer Dennis, der dann bei Mik war und ... auf ihn aufgepasst hat klingt falsch, aber dafür gesorgt hat, dass er nicht alleine ist und es ihm nicht noch schlechter geht.«

Tim nickte, bevor er mich mit einer Hand losließ und sein Handy aus der Tasche zog.

»Ich schreibe Rafi. Er soll gleich noch einmal kurz bei ihm vorbei schauen. Die beiden dürften eh noch nicht Zuhause sein.«

Ich nickte, dann schmiegte ich mich wieder enger an Tim. Mein genuscheltes »Danke« ging in seiner Brust unter. Wenige Sekunden später steckte der Alpha das Handy schon wieder weg und legte seine zweite Hand wieder an meine Hüfte. Kurz standen wir einfach wortlos so da, bis Tim das Schweigen brach.

»Jetzt aber los. Lass uns endlich heim gehen.«

Ich seufzte unwillig, was Tim nur grinsen ließ, bevor er mir erneut einen hauchzarten Kuss auf den Haaransatz drückte.

»Na komm. Du brauchst wirklich keine Angst zu haben. Meine Eltern werden dich mögen und Max lasse ich nicht einmal in deine Nähe kommen. Versprochen.«

Daunted and Broken ~ #Stexpert ~ #Kostory ~ #VenationWo Geschichten leben. Entdecke jetzt