54. Nachdenken

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Ein Brunnen mitten in der Fußgängerzone der Stadt. Nicht gerade das, was man sich unter »ruhig« vorstellt. Doch für mich war es nahezu perfekt. Natürlich, hier waren eine Menge Leute und es war ein ständiges Hetzen, Eilen, Rennen, Kommen und Gehen. Aber dennoch waren das alles fremde Menschen, ich kannte keinen von ihnen, keiner von ihnen kannte mich. Niemand wollte etwas von mir, ich wurde nicht gestört. Und selbst wenn ich um halb neun Uhr morgens, wenn jeder auf dem Weg in die Arbeit war, einen vollkommen ungestörten Platz gefunden hätte, dann wäre es mir doch zu ruhig gewesen. Stille kann angenehm sein, aber oft ist sie einfach nur beklemmend. Vor allem fremde Stille.

Die eigene Stille, im eigenen Haus, im eigenen Zimmer, die war ich gewohnt, die war okay, die war angenehm und entspannend. Aber Stille an Orten, die ich still nicht kannte, war beunruhigend, ließ mir keine Ruhe und machte mir fast schon Angst.

Und so fand ich diese fehlende Stille hier nicht schlimm, denn trotzdem war das hier der ideale Ort für mich. Stille war hier nicht das gleiche wie Ruhe. Und Ruhe hatte ich. Seit fast einer Stunde saß ich nun hier auf dem Brunnenrand und dachte über all das nach, versuchte, meine Gedanken und Gefühle zu ordnen und war inzwischen auch recht erfolgreich gewesen. Auch wenn ich es nicht hatte realisieren wollen, nicht wahrhaben wollen: Ich hatte mich irgendwann in den letzten Wochen in Tim verliebt. Und wäre ich nicht so auf meine Abneigung gegen alle Alpha fixiert gewesen, hätte ich es auch schon früher gemerkt. Es hatte, im Nachhinein betrachtet, Anzeichen gegeben, all das, was ich teilweise in Tims Gegenwart gefühlt hatte, aber was ich nie bewusst wahrgenommen hatte, nie wahrnehmen gewollt hatte.

Doch als Tim mich auf einmal damit konfrontiert hatte, was er fühlte, war ich gezwungen gewesen, mich auch mit meinen Gefühlen halbwegs auseinanderzusetzen. Und da hatte ich dann schließlich doch gemerkt, was ich eigentlich für diesen Jungen fühlte. Diesen Jungen, der nun seit einer Stunde neben mir saß, schweigend, und einfach nur in die Ferne sah, ab und zu einen Blick zu mir warf. Diesen Jungen, der akzeptiert hatte, dass ich meine Ruhe brauchte und mir diese gab, ohne mich dabei alleine zu lassen. Diesen Jungen, in den ich mich verliebt hatte. Heute Nacht war es dann alles auf einmal gekommen. Ich war übernächtigt und immer noch mit der Situation überfordert gewesen und ohne groß nachzudenken hatte ich Tim geküsst. Ich bereute es nicht, so viel war ich mir bewusst geworden. Aber es brachte keine Klarheit in meine Situation, unsere Situation. Und genau deswegen war ich jetzt an einem Punkt, an dem ich mit dem Alpha neben mir sprechen musste, in dem ich mir klar werden musste, in was für einer Situation wir uns befanden. Waren wir zusammen? Würden wir zusammen kommen? Wären wir dann auch offiziell gebunden? Ich holte tief Luft und drehte mich zu dem Größeren. Sofort ging sein Blick in meine Richtung.

»Tim?«, fragte ich vorsichtig, »Sind...«, ich suchte nach einer Formulierung, »Sind wir jetzt eigentlich zusammen?«

Tim lachte leise und melodisch.

»Wenn du willst. Ich will dich zu nichts drängen, lass dir so viel Zeit, wie du brauchst.«

Ich überlegte kurz, doch eigentlich war mein Entschluss schon gefallen. Ich nickte eifrig.

»Dann bist du jetzt offiziell ein gebundener Omega. Mein gebundener Omega.«, lächelte Tim und zog mich in seine Arme. Ich schmiegte mich an die Brust des Älteren, bevor er mich wieder leicht von sich wegdrückte. Sofort verlor ich mich in dem wunderschönen Braun seiner Augen, bis Tims Lippen sich weich auf meine legten und sein Duft mich einhüllte.

Daunted and Broken ~ #Stexpert ~ #Kostory ~ #VenationWo Geschichten leben. Entdecke jetzt