Kapitel 74

472 39 12
                                    

Jans Erinnerung

Ich reiße die Augen auf. Nass vor Schweiß fahre ich hoch. Im ersten Augenblick kann ich nicht einordnen, wo ich mich befinde und was gerade passiert ist. Hektisch schaue ich mich um und begreife, dass das hier Andres Zimmer ist. Darum habe ich es auf den ersten Blick nicht erkannt.

Bei dem Gedanken an Andre fällt mir schlagartig wieder die Beerdigung ein. Wie kann es sein, dass ich plötzlich in seinem Zimmer bin und auf seinem Bett sitze?! Ich könnte schwören, dass ich vor zwei Sekunden noch an seinem Grab stand und... Die Bilder wirbeln noch immer meinem Kopf herum und ich meine sogar spüren zu können, wie mir der Regen aufs Gesicht fällt. Sofort schwappt eine neue Welle der Panik in mir hoch. Ich kralle die Hände im Bettlacken fest und versuche mich selbst zu beruhigen. Ich wage es nicht, zur Seite zu sehen aus Angst, er könnte wirklich nicht da sein. Es hat sich so unglaublich real angefühlt. Was, wenn er mich verlassen hat? Für immer?! Ich könnte es niemals ertragen. Ich kneife die Augen fest zu und schüttle den Kopf. Dann drehe ich Millimeter für Millimeter meinen Kopf seitlich und öffne ganz langsam ein Auge. In diesem Moment fällt mir ein riesiger Stein vom Herzen vor lauter Erleichterung. Ich glaube, ich wahr noch nie so froh wie in diesem Moment, Andre zu sehen. Ich betrachte ihn lange und ausgiebig, wie er sich in die Decke gekuschelt hat.

Im Schlaf sehen seine Gesichtszüge so weich aus. Beinahe kindlich. Ich streiche ihm vorsichtig eine der blond gefärbten Strähnen aus der Stirn, um ihn besser anschauen zu können. Die dichten dunklen Wimpern, welche die gleiche Farbe haben wie seine Augenbrauen, ziehen meine Aufmerksamkeit auf sich. Ich fahre ganz sanft den Schwung der Brauen mit meinem Zeigefinger nach. Dann die Nase. Eher groß, aber nicht zu groß. Dann die Bartstoppeln, die um den Mund herum nach unten zum Kinn laufen. Genau wie bei mir selbst. Nur mit dem Unterschied, dass Andres Bart deutlich dunkler ist. Ich bin bei den Lippen angelangt. Zu meiner Erleichterung sind sie - anders als in meinem Traum - kräftig rot. Ich berühre die warme Haut seiner Wangen mit meinen Händen und drücke ihm zärtlich einen Kuss auf die Lippen. Er seufzt im Schlaf wohlig auf. Ich muss lächeln und küsse ihn noch ein mal. Als Antwort greift er nach mir und zieht mich an sich, noch immer schlafend. Voller Dankbarkeit und Erleichterung kuschle ich mich an seine nackte Brust und lausche seinem gleichmäßigem und doch kräftigen Herzschlag. Der dumpfe Rhythmus trägt mich in den Schlaf. Schneller als ein Rauschmittel.

Mein letzter Gedanke, bevor ich die Schwelle zur Traumwelt endgültig überschreite. "Übermorgen besuchen wir seinen Dad... Dann kann ich auch mal für ihn da sein..."

- Ende von Jans Erinnerung -


Cengiz

Ich bin zurück und sitze im Wohnzimmer. Allein. Allein ist ein seltsamen Wort, um unsere WG zu beschreiben. Es kommt mir auf keinen Fall passend vor, aber in diesem Moment stellt es meinen Zustand sehr sehr gut dar. Allein und verlassen bin ich. Eigentlich ist das auch mal ganz schön. Keiner, der ständig was will wegen dem PC oder der Kamera oder dir mit dem Videodreh auf die Nerven geht. Aber vollkommen allein bin ich dann doch nicht gerne.

Ich will mir gar nicht vorstellen, wie das die nächsten Wochen ohne Sarah werden soll. Ich meine Andre und Jan hängen eh die ganze Zeit zusammen. Und ich? Ich bin dann das fünfte Rad am Wagen. Das war in unserer langjährigen Freundschaft noch nie so krass wie jetzt. Ich verstehe ja, dass die beiden Zeit brauchen. Für sich. Doch so langsam geht mir diese „Phase" gehörig auf die Nerven. Ich hoffe, dass sie bald mal vorbei ist. Sonst muss ich die Sache doch mal in die Hand nehmen.

Seufzend setze ich mich mit meinem Handy raus auf den Balkon. Da habe ich wenigstens etwas Gesellschaft und zwar vor Murkey und Dexter, die dort im schönen Wetter herumtollen. Ich lasse mich auf unserem kleinen Liegesofa mit Sonnenschutz nieder und mache ein paar Snaps von den beiden und auch von mir selbst, in denen ich der Community erkläre, wie unfassbar langweilig mir gerade ist. Eine Weile lenken mich die Katzen und Instagram echt ganz gut ab, aber irgendwann entscheide ich mich doch dafür, eine Runde zu zocken. Draußen ist zwar aller schönster Sonnenschein, aber das hat mich schließlich noch nie gestört. (Ganz im Gegensatz zu meiner Mutter früher.) Die fiktive Onlinewelt lässt mich mal wieder alles um mich herum vergessen, so vergehen die Stunden im Flug und ich schaue erst wieder auf die Uhr, als mein Handy klingelt und Sarah anruft. Wir reden über dies und das. Wir versichern uns gegenseitig tausend Mal, wie sehr wir den jeweils anderen vermissen und Sarah sagt, dass sie ein wenig Angst hat, vor der vielen Zeit, in der sie allein sein wird, vor allem vor den Nächten. Ich versuche sie zu trösten, obwohl es mir selbst nicht anders ergeht, aber sie hat im Augenblick Vorrang, schließlich geht es ihr auch gesundheitlich nicht so gut.

Ich verspreche ihr, sie bald zu besuchen und schicke ein paar Fotos von Murkey und Dexter. Kurz darauf verabschieden wir uns und ich spiele noch ein wenig weiter, bis mich plötzlich ein lautes Trampeln im Treppenhaus aufhorchen lässt. Keine Sekunde später fliegt die Tür auf und Andre poltert herein. Sonst ist es nicht seine Art, einen solchen Lärm zu machen. Ich will gerade etwas dazu sagen, aber als ich in sein Gesicht sehe, lasse ich es lieber bleiben, denn jeder Blinde könnte erkennen, dass irgendetwas ganz und gar nicht stimmt. Bevor ich nachfragen kann, was los ist, kommt er mir zuvor:

„Ist Dsche hier?"

Ich schüttle den Kopf und prompt verdüstert sich seine Miene noch mehr. War ja klar.

„Bist du sicher?"

Diesmal nicke ich.

„Habt ihr euch gestritten... oder so?", hake ich vorsichtig nach.

„Nein!", antwortet er in unnötig lautem Tonfall. Ungefähre Übertragung der derzeitigen Gefühlssituation: Hochspannung liegt in der Luft, kurz vor dem Entladen des Gewitters mit heftigem Wolkenbruch, Starkwind und akuter Hagelgefahr. Beschwichtigend hebe ich die Hände.

„War ja nur eine Frage..."

Wütend sieht er mich an. Doch da ist noch etwas in seinem Blick, was er kaum verbergen kann und was mir einen kalten Schauer über den Rücken jagt. Besorgnis. Eindeutig sehr große Besorgnis.


Jaaaaa, ich bin schlecht, denn das Kapitel kommt ziemlich zu spät. Tut mir mega leid :(

Herzlichen Glückwunsch übrigens an itsandroschkameyer, sie hat in den Kommis letztes Mal erraten, dass die Beerdigung nur ein Albtraum von Jan war und zwar vor dem Besuch im Krankenhaus. Ein paar andere lagen auch ganz richtig mit ihren Vermutungen, aber niemand war so nah dran wie du. Da geht echt mal ein großes Kompliment an dich raus, dass du allein durch den kleinen Hinweis "Jans Erinnerung" darauf gekommen bist... :D Und dieses Kapitel ist dir gewidmet. <3

Was im Moment mit Andre los ist und wie die Sache mit dem LKW ausgeht, erfahrt ihr im nächsten Kapitel, das (hoffentlich) bald kommt. :)

Memories never die | JandreWo Geschichten leben. Entdecke jetzt