Kapitel 76

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Cengiz

„Andre, jetzt sag mir verdammt noch mal was los ist!!!" Zum gefühlt hundertsten Mal hämmere ich gegen die Tür. Dahinter ist die Musik so grässlich laut aufgedreht, dass die Wände wackeln und ich mir sicher bin, dass er mich nicht mal hört. Dafür kann man die dröhnenden Bässe bis zu Herr Bolzen zwei Etagen darunter vernehmen, da wiederum bin ich mir sehr  sicher.

„Aaaaaaandre!", brülle ich, „Muss ich die Tür einschlagen, oder machst du mir auf?!" Nichts tut sich. Die Musik wummert in der gleichen unerträglichen Lautstärke weiter.

Mist. Wahrscheinlich bekommen wir noch heute Abend eine Anzeige von diversen Hausbewohner und fliegen am besten morgen dann raus. Warum um alles in der Welt ist Andre nur so schräg drauf?! Natürlich hängt es mit Jan zusammen. Von dem weiß ich genauso wenig, was los ist. Er meldet sich nicht und ist nicht erreichbar. Aber das ist keine Seltenheit. Ich muss an das TV Video denken, in dem wir darüber geredet haben, was uns an den anderen stört. Andre hat damals gesagt, dass Jan nie erreichbar ist. Und irgendwie hat er recht damit, obwohl mich das nie so sehr stört wie Andre.

Komische Geschichte. Was ist nur zwischen den beiden passiert? Andre ist aber völlig durch den Wind wie mir scheint. Er hat vorhin erst die gesamte Wohnung nach Jan abgesucht. Obwohl ich ihm doch gesagt habe, dass Dsche nicht da ist. Und als er sich endlich selbst davon überzeugt hatte, hat er die ganze Zeit versucht, ihn per Handy zu erreichen. Natürlich genauso erfolglos wie ich zuvor. Als ich ihn dann gefragt habe, was los ist, ist er nach oben gestürmt in den Fitnessraum, hat die Musik unendlich laut gedreht und ist seit Stunden da drin. Was soll das alles? Kein Mensch kann stundenlang ohne Pause trainieren!

„Andre, wenn du nicht gleich diese beschissene Tür aufmachst, dann..." Mir fällt nichts ein, womit ich ihm drohen könnte. Ist aber eh egal, weil er mich ohnehin nicht hört. Oder er ignoriert mich mit Absicht. Langsam werde ich echt stocksauer! So ein Dickschädel! Kann er mir denn nicht endlich mal sagen, was hier abgeht?! Ich habe doch ein Recht, zu erfahren, was...

In diesem Augenblick wird die Tür so urplötzlich von innen aufgerissen, dass ich erschrocken einen Schritt rückwärts mache. Vielleicht kommt der Schreck jedoch eher daher, wie Andre da vor mir steht. Der Anblick ist... wie soll ich sagen... einfach furchtbar. Wie aus einem Horrorfilm, nur dass das hier  leider Realität ist. Seine Augen sind rot und verquollen. Das ganze Gesicht und sein Körper sind klatschnass vor Anstrengung. Die Haare wirr, die Lippe blutig gebissen und der Blick ausdruckslos. So steht er vor mir und ich kann es nicht fassen. Irgendwas läuft hier grade gewaltig schief!

„Andre", sage ich. Er reagiert nicht.

„Andre!", wiederhole ich seinen Namen. Diesmal mit Nachdruck.

Er hebt den Kopf und starrt mich an, als wäre ich ein vollkommen fremder Mensch. Meine Wut verraucht blitzschnell. Er braucht Hilfe. Und zwar dringend. Er ist komplett verwirrt!

„Andre, sag mir, was los ist!" Ich greife nach seinen Händen. Als ich sie berühre, zieht er sie weg und keucht auf. Erst jetzt sehe ich es. Die Innenflächen sind blutig und voller Schnitte. Hat er etwa? Ich schnappe nach Luft. „Andre, was zum Teufel treibst du da...?!", rufe ich aus und bereue es im nächsten Moment sofort, da er zusammen zuckt und Anstalten macht, die Tür wieder zu schließen.

Schnell stelle ich einen Fuß in den Rahmen und atme tief durch.

„Ok, Andre. Du erzählst mir jetzt alles, was mit dir und Jan los ist, in Ordnung? Und zwar alles alles!", sage ich ruhig.

Er schaut skeptisch.

„Andre, wenn man darüber spricht, geht es einem danach immer besser, ok?", ermutige ich ihn. Ich erkenne genau, wie sich sein Gesichtsausdruck von verständnislos zu hoffnungsvoll verändert. Fast lächelt er ein wenig.

„Zusammen finden wir eine Lösung! Das verspreche ich dir! Wir haben doch noch immer eine Lösung gefunden, egal wie verzwickt das Problem war...", mache ich weiter. Aber diesmal erreichen meine Worte zu meiner Überraschung nicht ihr Ziel. Stattdessen beobachte ich mit Unbehagen, wie er plötzlich allen Mut und alle Hoffnung wieder verliert. Er starrt auf den Boden, bevor er ganz leise und mit tränenerstickter Stimme flüstert: „Nein, Cengiz. Diesmal werden wir keine Lösung finden."

Perplex schaue ich in sein verheultes Gesicht. So verletzt habe ich ihn niemals gesehen.

Ich wage kaum, das zu fragen, was mir auf der Zunge liegt.

„Wieso?"

Er sieht mich an und die Tränen rinnen jetzt in Sturzbächen über sein Gesicht. Ich bin vollends schockiert. Und dann passiert das Unfassbare. Von einer Sekunde zur anderen wird seine Miene vollkommen ausdruckslos. „Weil er tot ist."

„Wer?"

Er schweigt und bestätigt damit meine schlimmste Vorahnung.

„Jan?" Ich kann es nicht fassen. Mit offenem Mund stehe ich da. Irgendwann beginne ich zu lachen. Warum, weiß ich auch nicht.

„Das glaub ich dir nicht!", rufe ich, „Wo ist die Kamera? Ihr seit beide so clever, aber das kann nicht sein... Sag schon - wo hast du die Cam?" Ich suche den ganzen Raum ab, während Andre mich mit einer unheimlichen Seelenruhe mit seinem Blick verfolgt, sich selbst aber nicht von der Stelle rührt.

„Richtig nice Idee! Aber euer Prank ist GESCHEITERT!!!" Ich lache laut. Es befreit mich und hilft mir, mich selbst zu beruhigen. Aber er lacht nicht mit, er grinst nicht mal.

„Andre, wo habt ihr denn jetzt die Cam?", frage ich unsicher.

Ich schaue zu ihm, wie er da an der Fensterbank lehnt mit verschränkten Armen.

„Es ist die Wahrheit!", entgegnet er mit eisiger Stimme. Und ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, fügt er hinzu: „Ich habe ihn umgebracht. Ich ganz allein!"

Ich stehe dort und mir ist schlecht vor Angst. Hat er das gerade wirklich gesagt? Ist das nicht alles nur ein böser Traum? Wann wache ich denn endlich auf?! Kann mir bitte jemand sagen, dass das alles nur ein blöder Scherz ist?!

Wir sehen uns an. Es sind nur wenige Meter zwischen uns, aber es kommt mir vor als würde die Entfernung Lichtjahre betragen. Dieses Gefühl, wenn man einen Menschen quasi sein Leben lang kennt und auf einmal feststellt, dass man GAR NICHTS über diese Person weiß. Genau so empfinde ich gerade. Wie kann er ihn umbringen? Ich dachte, er würde ihn lieben. Ich schlucke. Habe ich mich geirrt? Aber wie kann er das tun und dann einfach so hier stehen und mir das ins Gesicht sagen? Wie kann er nur...? Die plötzliche Ruhe im Raum scheint sich zwischen uns auszubreiten und dicker und dicker zu werden wie eine Nebelsuppe, die irgendwann so zähflüssig wird, dass sie jeden der sich im Umkreis befindet zu ersticken droht. Und genau in diese Stille hinein klingelt jemand unten an der Haustür Sturm.


So... ein dramatischen Kapitel und auch noch einen Tag zu spät... :( Aber betrachten wir mal die positiven Dinge: Vielen Vielen Dank für über 40 k Reads und 3,8 K Likes! Das ist unglaublich mal wieder! Wollt ihr eine Lesenacht? Die hättet ihr euch echt verdient!!!



Memories never die | JandreWo Geschichten leben. Entdecke jetzt