Schwerfällig drehte ich den Schlüssel im Schloss, bis es endlich nachgab und ich die Haustür von unserem Einfamilienhaus am südwestlichen Stadtrand von Boston aufstoßen konnte. Das Schloss musste dringend geölt werden, aber das schob ich schon seit Wochen vor mir her und hoffte jedes Mal, dass mir meine Faulheit keinen Strich durch die Rechnung machen und mich aus meinem eigenen Haus aussperren würde. Ich nahm mir fest vor, heute noch in Dads Überbleibseln im Gartenschuppen nach einem Ölspray zu suchen, denn den Schlüsseldienst kommen zu lassen, konnte ich mir schlichtweg nicht leisten.
Aus dem Obergeschoss drang laute Musik herab, irgendeine Mischung aus Rap und Rockmusik, die mein jüngerer Bruder momentan rauf und runter hörte – egal, zu welcher Tageszeit.
Seufzend zog ich den Schlüssel wieder aus dem rostigen Schloss, trat ein und drückte die Tür hinter mir zu. Meine Augen mussten sich an die schlechten Lichtverhältnisse im Flur gewöhnen, die im Gegensatz zu dem hellen Sonnenschein draußen an eine Höhle erinnerten, in der es wenigstens ein paar Grad kühler war.
Ich stolperte über ein Paar ausgelatschte Schuhe, das nur Charlie gehören konnte, kickte es an die Seite und stellte meine Tasche daneben ab, ehe ich mir mit einem genüsslichen Stöhnen meine schwarzen Ballerinas abstreifte. Abgesehen davon, dass dieses Paar uralt war und sowohl an der Ferse als auch an den Zehen drückte, waren fünfundzwanzig Grad keine Temperatur, die den Tragekomfort maßgeblich förderte. Meine Füße verlangten nach einem kühlen Bad und ich nach einem entspannten Nachmittag im Garten, aber diese Wünsche mussten sich hintenanstellen.
Als erstes nahm ich die Treppe nach oben in Angriff, was in dem dämlichen Bleistiftrock eine wahre Herausforderung war. Schon auf dem Heimweg hatte ich das Teil verflucht und den Moment herbeigesehnt, an dem ich es endlich ausziehen konnte, während ich U-Bahntreppen hoch und wieder runter gestakst war. Obwohl der Stoff wie eine zweite Haut an meinen Beinen klebte, legte ich einen Stopp bei meinem Bruder ein.
Seine hölzerne Zimmertür stand einen Spalt weit offen. Ich stieß sie vorsichtig mit meinen Fingerspitzen weiter auf und fand ihn an seinem Schreibtisch sitzend, an seinem in die Jahre gekommenen Laptop zockend. Ich verdrehte die Augen. Draußen herrschte paradiesisches Wetter und er hockte mit halb heruntergelassenem Rollo hier drinnen.
„Charlie."
Nichts passierte; er hatte mich nicht gehört, was bei der ohrenbetäubenden Musik und den Kopfhörern, die er zusätzlich über die Ohren gestülpt hatte, kein Wunder war. Seufzend machte ich mich auf den Weg zu seinem Regal, um die Anlage auszuschalten. Mein von dem Vorstellungsgespräch und der erbarmungslosen Hitze dröhnender Kopf freute sich sofort über die willkommene Stille.
„Man, Brooke", wurde mir direkt nach einem erschrockenen Japsen entgegengeschleudert. „Was soll denn das?"
Ich drehte mich zu ihm um. „Schön, dass du auch mal was mitbekommst."
Charlie reagierte nicht, sein Blick war weiterhin auf den Bildschirm geheftet, dann sprach er einen Fluch aus und versetzte seinem Laptop einen frustrierten Hieb.
„Vielen Dank auch!" Er zog sich die Kopfhörer vom Kopf und strafte mich mit einem finsteren Blick, ehe er mit abschätzig in Falten gelegter Stirn an mir herabsah. „Wie siehst du denn aus?"
Augenverdrehend ließ ich mich auf sein ungemachtes Bett fallen, wobei meine Knie unangenehm zusammengepresst wurden. „Ich hatte ein Vorstellungsgespräch."
„Und dafür musstest du so einen hässlichen Rock anziehen?"
„War halt... vornehm. Ich musste einen guten Eindruck hinterlassen."
Skeptisch hob er seine buschigen Augenbrauen. „Hat's wenigstens geklappt?"
Darüber hatte ich mir während der gesamten Heimfahrt auch schon den Kopf zerbrochen. Sicherlich gab es noch eine Reihe anderer Interessenten für den Job und Mrs Parker hatte keinerlei Hinweise fallen gelassen, die darauf schließen ließen, dass ich das Rennen gemacht hatte. Ihre Ausstrahlung war durchgehend so neutral wie die einer Nachrichtensprecherin gewesen.

DU LIEST GERADE
Sommergewitter
RomanceWo strahlender Sonnenschein auf eiskalte Wellen trifft, schneidender Wind auf gespannte Segel und High Society auf urige Fischerdörfchen kollidieren die Herzen von Brooke und Alexander wie Donner in einem Sommergewitter. Drei Wochen als Kindermädche...