Obwohl ich den Laden nicht ausstehen konnte und mir geschworen hatte, nie wieder einen Fuß hineinzusetzen, stemmte ich erstaunlich gut gelaunt gegen die rustikale Tür der Kneipe, die ich noch bis vor kurzem meinen Arbeitsplatz genannt hatte. Selbst um diese frühe Uhrzeit stieg mir der Geruch von altem Bratenfett in die Nase, der sich über Jahre hinweg an den dunklen Holzvertäfelungen festgesetzt haben musste. Meine Augen brauchten einen Moment, um sich an die dämmrigen Lichtverhältnisse hier drinnen zu gewöhnen, denn an Fenstern und guter Beleuchtung war hier definitiv gespart worden.
„Na sieh mal einer an, dich hätte ich hier absolut nicht erwartet! Gelüstet es dich etwa nach einer schönen, fettigen Portion Bratkartoffeln zum Frühstück?"
Mein Blick schweifte suchend durch den noch leeren Gastraum.
Der erste Ansturm würde erst zur Mittagszeit kommen, wenn die Geschäftsleute aus der Umgebung ein Lokal zum Essen aufsuchten. Ich hatte noch nie verstanden, was die Schlips- und Kostümtragenden in diese gediegene Absteige lockte. Das wenig überragende Essen konnte es jedenfalls nicht sein, höchstens der Wunsch nach Abwechslung beim Mittagessen.
Hinter der Theke stand Chris, einer der Schichtleiter. Ich begrüßte ihn mit einem Lächeln, bevor ich Noemi in einer der hinteren Ecken des Raumes entdeckte, wo sie gerade einen Tisch eindeckte. Grinsend warf sie sich ein Geschirrhandtuch über die Schulter, ließ den Tisch links liegen und kam mit so dynamischen Schritten auf mich zu, dass ihre schwarze Lockenmähne bei jedem Schritt wippte.
Mit ihrem zierlichen Erscheinungsbild und den zarten Gesichtszügen passte sie eigentlich überhaupt nicht in diesen Laden. Selbst in dem schlichten weißen T-Shirt und der schwarzen Momjeans wirkte sie zu feminin, um zu später Stunde massenweise Bierkrüge zu schleppen. Fakt war allerdings, dass sie es ohne mit der Wimper zu zucken mit jeder besoffenen Männergruppe am späten Abend aufnahm, die ihr respektlos auf der Nase herumtanze. Sie war wie ein niedliches Kätzchen, das urplötzlich die Krallen ausfahren und sich in einen Puma verwandeln konnte, wenn ihr etwas gegen den Strich ging. Und das passierte hier oft. Während ich mich mit meinen blonden Haaren nur Sexismus hatte stellen müssen, musste Noemi mit ihrer dunklen Hautfarbe nicht selten auch noch rassistische Kommentare gefallen lassen. Keine Ahnung, warum sie sich nicht längst woanders etwas gesucht hatte. Vielleicht lag es daran, dass Aufgeben nicht zu ihr passte, oder aber der Rückhalt, den sie aus dem Team bekam, ihr genug den Rücken stärkte. Denn egal, worum es ging – wir hatten immer bloß den Mund aufmachen müssen, wenn ein Gast eine Grenze überschritten hatte, und der jeweilige Schichtleiter hatte ihn im hohen Bogen rausgeschmissen. Das war wahrscheinlich aber auch das einzig Gute an diesem Job gewesen.
Noemi und ich umarmten uns, als sie bei mir ankam. Mir stieg der vertraute Geruch ihres Waschmittels in die Nase, das sich seit der Middle School nicht mehr geändert hatte. Wahrscheinlich lag es daran, dass sie noch Zuhause wohnte, weil es das Günstigste war.
„Was machst du hier?", fragte sie verwundert.
„Ich wollte dir den Rock zurückbringen", erwiderte ich und hielt demonstrativ die Papiertüte in die Höhe, in der ich das Kleidungsstück verstaut hatte. „War gerade in der Gegend, Vorstellungsgespräch als Putzfrau." Ich reckte beide Daumen in die Luft und zog eine Grimasse.
„Oh, wie schön." Noemi lachte mitfühlend und nahm mir die Tüte ab, um sie ein paar Schritte entfernt auf einem Barhocker zwischenzuparken. „Und, hat er dir Glück gebracht?", fragte sie mit wackelnden Augenbrauen. „Der Rock, meine ich."
Lachend verdrehte ich die Augen. „Das weiß ich leider noch nicht."
Sie verengte ihre dunkelbraunen Augen zu Schlitzen und musterte mich eindringlich. „Nun rück doch endlich mit der Sprache raus!"
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Sommergewitter
RomanceWo strahlender Sonnenschein auf eiskalte Wellen trifft, schneidender Wind auf gespannte Segel und High Society auf urige Fischerdörfchen kollidieren die Herzen von Brooke und Alexander wie Donner in einem Sommergewitter. Drei Wochen als Kindermädche...