Sommergewitter

E i n u n d z w a n z i g

Voller Anmut schnitt der Bug durch die Wellen des tiefblauen Atlantiks, angetrieben von der unsichtbaren Kraft des Windes, der auf das riesige Segel traf.

Es fühlte sich nach Freiheit an, nach Sorglosigkeit und purem Glück. Für die Zeit, in der der schon vertraute Wind durch meine Haare tanzte und meine Haut strich, war es einfach, nur im Hier und Jetzt zu sein. In diesen Stunden gab es keine Probleme, keinen Kummer und keine Ängste. Nicht meine und auch nicht die abertausenden der ganzen Welt.

Wenn ich könnte, würde ich die Augen schließen und jede einzelne Sekunde dieser Friedlichkeit in mir aufsaugen, aber ich war die einzige Person an Bord, die keinen Urlaub hatte.

Momentan war Lillian allerdings nur am Rande meines Sichtfeldes präsent, weil ich völlig gebannt beobachtete, wie Alexander den scheinbar unbändigen Wind perfekt zu lesen schien. Kommandos, die trotz ihrer Lautstärke drohten von eben diesem verweht zu werden, schallten immer wieder über das Deck der Yacht und jedes Mal arbeiteten er, sein Vater und seine Stiefmutter im Einklang, um die Eleganz dieses imposanten Bootes aufrecht zu erhalten. Es war kurios, dass sie hierbei als eingespieltes Team harmonierten, aber sobald das Boot nicht mehr in Bewegung war, ihre Wege sich radikal zu trennen schienen.

Gerade deshalb war ich so fasziniert. Alles sah scheinbar so leicht aus. Jeder von Alexanders Handgriffe und jeder Schritt saß, als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan, als zu segeln. Gleichzeitig konnte ich ihm ansehen, wie anstrengend es war, durchgängig konzentriert zu sein. Nur deshalb traute ich mich überhaupt, ihn so ungeniert zu beobachten, weil er es sich nicht leisten konnte, nur für einen winzigen Moment nicht aufzupassen.

Deshalb ging er auch über Bord, als er es für einen winzigen Augenblick nicht tat. Ein Augenblick, in dem sein Blick auf mich traf, in dem meine Augen sich ertappt weiteten und sein Mund sich minimal öffnete, bevor der Wind so auf das Segel traf, dass ein Ruck durch die ganze Segelyacht ging und er haltlos rückwärts taumelte.

Ein Schrei entwich meiner Kehle, als er rücklings über das dünne Drahtseil des Geländers kippte. Aufgrund der Schräglage des Boots hatte er es nicht weit, bis er ins Wasser tauchte und in Sekundenbruchteilen aus meinem Sichtfeld verschwand, weil wir nicht an Fahrt verloren. Panisch suchte ich Mrs Parkers Blick, die genauso geschockt auf den Fleck schaute, an dem Alexander eben noch gestanden hatte.

Ich sprang von meinem Platz neben Lillian auf, ohne auch nur darüber nachzudenken, was das für Konsequenzen mit sich ziehen würde und stürzte an die Reling.

Ronan Parker rief etwas vom Steuerrad, das ich nicht verstand. Ich war zu sehr auf Alexander fixiert, dessen Kopf ich kaum in den Wellen ausmachen konnte. Ich setzte dazu an, Mr Parker zuzurufen, dass er umdrehen sollte, als er genau das tat. Mit voller Wucht riss das Segel herum und da wusste ich, wie Alexander sich vor einigen Sekunden gefühlt haben musste. Ich taumelte haltlos umher, versuchte nach irgendetwas zu greifen, doch da war nichts. Die Schwerkraft warf mich regelrecht über Bord. Der einzige Unterschied zu Alexanders Abgang war, dass ich vorwärts ins Wasser fiel.

Eiskalt umhüllte es mich. Ich kniff die Augen zusammen, um sie vor dem Salzwasser zu schützen und hoffte gleichzeitig, dass die Yacht mich nicht rammen würde. Als ich wieder auftauchte, war sie schon nicht mehr neben mir, sondern mitten in ihrem Wendemanöver. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Hektisch drehte ich mich umher, hustete, als eine Welle über mich schwappte, trat Wasser, schwamm ein paar Züge, nur um zu merken, dass mich das dem Boot nicht näherbrachte. Hilfesuchend sah ich mich nach Alexander um, aber ich konnte ihn nicht entdecken. Da war überall nur Wasser. Mächtig und wild und dunkel. Es zerrte schwer an meiner Shorts. dem T-Shirt und meinen Schuhen. Ich wollte gar nicht darüber nachdenken, wie tief es unter mir hinunter ging. Langsam, aber sicher bekam ich es mit der Angst zu tun.