E i n u n d d r e i ß i g

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Scheiße, war das erste, was mir durch den Kopf schoss. Verdammte, beschissene Scheiße. Das konnte nicht wahr sein. Nicht schon wieder.

Mit meiner freien Hand fuhr ich mir unbedacht über mein Gesicht, wodurch ich höchstwahrscheinlich mein komplettes Make-Up verschmierte. Das musste ein Traum sein. Ein verdammter Albtraum.

„Brooke?", fragte Charlie kleinlaut.

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Alles, was mir auf der Zunge lag, waren Vorwürfe.

„Bitte leg nicht auf", flehte er. „Du bist mein einziger Anruf und ich kenn Tante Erins Nummer nicht auswendig!"

Überfordert versuchte ich meinen Atem unter Kontrolle zu halten und mir darüber klar zu werden, was ich jetzt tun sollte. Als Schwester, als Erziehungsberechtigte, aber ich wusste es nicht.

„Brooke?" Charlies Stimme bebte gefährlich.

Ich atmete tief durch, um einen klaren Kopf zu bekommen. Meine Gedanken waren schon Jahre in der Zukunft, in der Charlie nicht Fuß fassen konnte, weil er ein zu langes Strafregister hatte, aber im Hier und Jetzt war das absolut nicht hilfreich.

„Was ist passiert?", brachte ich hervor, denn bevor man über jemanden urteilen konnte, musste man erst einmal erfahren, was überhaupt los war. Vielleicht war ja alles nur ein riesiges Missverständnis. Oder Charlie erlaubte sich einen schlechten Scherz mit mir. Ich würde ihm den Hals umdrehen, wenn er das tat, denn meine aufsteigende Panik war alles andere als spaßig.

Gott verdammt, warum passierte das schon wieder? Warum konnte er nicht einmal an die Konsequenzen seines Handelns denken? Er war sechzehn und kein Kind mehr!

„Es war nicht meine Schuld, Brooke!" Charlie klang verzweifelt. „Mir hat irgendjemand etwas untergejubelt oder so und dann sind diese Sicherheitsdinger am Ausgang losgegangen. Die glauben mir das nicht." Durch die Leitung konnte ich seinen aufgebrachten Atem hören. „Sie wollen mich erstmal nicht gehen lassen. Wegen dem, was damals Zuhause war."

„Man, Charlie", rutschte es mir nun doch ungehalten und mit einer ziemlichen Ladung Verzweiflung heraus.

„Ich weiß nicht, was ich machen soll."

Das wusste ich auch nicht. Was machte man in solchen Fällen? Das letzte Mal hatten sie ihn einfach laufen lassen und jetzt fragte ich mich, ob er ins Gefängnis musste. Die Vorstellung jagte mir eine gewaltige Angst ein.

Ich richtete meinen Blick gen Himmel, als stünde dort ein passender Ratschlag. Mit zwei Fingern kniff ich mir in den Nasenrücken, während ich versuchte die gute Stimmung in meinem Rücken auszublenden. „Ich rufe Tante Erin an", meinte ich schließlich. Nervös wippte ich mit meinem Bein unaufhörlich auf und ab. „Sie kann dir momentan schneller zur Seite stehen als ich. Dann kann sie vorbeikommen und mit den Officern sprechen. Weißt du, wo du bist? Auf welcher Wache?"

„In Pembroke."

„Okay." In meinem Kopf wiederholte ich den Namen, mit dem ich absolut nichts anfangen konnte, wieder und wieder, um ihn bloß nicht zu vergessen. Erneut atmete ich die aufsteigende Panik weg und überlegte fieberhaft, was ich noch wissen musste, doch mir fiel beim besten Willen nichts ein. Jedenfalls nichts, was ihm oder mir helfen konnte. Außerdem wusste ich, dass Anrufe wie dieser nicht ewig dauern konnten. Bald würde ein Cop Charlie dazu drängen, das Telefonat zu beenden. „Ich versuche das zu regeln", versprach ich ihm. „Bis dahin sagst du kein Wort mehr zu den Polizisten, verstanden?"

Wenn möglich klang Charlie noch eingeschüchterter, als er meine Anweisung mit einem leisen „Okay" zur Kenntnis nahm.

Gequält verzog ich mein Gesicht. „Ich hab dich lieb, Charlie. Es wird alles wieder gut, okay?"

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