„Du bist mir sowas von was schuldig."
Seufzend verdrehte ich meine Augen. Dieser und ähnliche waren in den letzten Tagen zu Charlies Standardsätzen geworden, was ihm allerdings nicht aus der Patsche geholfen hatte. So sehr er auch versucht hatte mich umzustimmen und irgendwie in Boston zu bleiben – er war gescheitert und mein schlechtes Gewissen dafür umso größer. Wenigstens das hatte er erfolgreich gemeistert.
In fünf Minuten würde der Zug abfahren, der ihn nach Savannah zu unserer Tante beförderte und er stand mir mit verschränkten Armen auf dem Bahnsteig gegenüber, seine Reisetasche vor sich auf dem Boden. Seine bevorstehende Reise würde anstrengend werden, beinahe 24 Stunden lang, und er musste heute Abend in einen Nachtzug umsteigen. Diese Option war günstiger gewesen als ein Direktflug und ich hatte ein schlechtes Gewissen, Charlie diese Strapazen antun zu müssen. Wenn ich morgen meinen Job antrat, würde Charlie immer noch nicht bei Tante Erin angekommen sein. Ich war mir nicht sicher, welche der beiden Tatsachen mich nervöser machte. Es war das erste Mal, dass ich Charlie drei Wochen am Stück nicht sehen würde und schon jetzt bereitete mir diese Tatsache Bauchschmerzen.
„Es wird bestimmt nicht so schlimm", startete ich einen Aufmunterungsversuch. Ob ich wirklich nur ihm oder auch mir damit Mut zuzusprechen versuchte, wusste ich nicht so genau. „Tante Erin ist doch total entspannt."
„Ja, genau."
Ich strafte Charlie mit einem vorwurfsvollen Blick.
„Gut, sorry." Schnaubend beugte er sich nach unten, um nach seiner Tasche zu greifen. „Ich wünsch dir 'ne tolle Zeit. Suhl dich nicht zu sehr im Luxus."
„Charlie." Ich griff nach seinem Arm, bevor er sich davon machen konnte. „Das ist nicht fair. Können wir uns bitte vernünftig verabschieden?" Im Zank mit ihm auseinanderzugehen wollte ich um jeden Preis verhindern. Immerhin wussten wir beiden genau, dass es das letzte Mal sein konnte, das man sich in die Arme schloss.
Widerstrebend ließ Charlie sich in eine Umarmung ziehen. Fest schloss ich meine Arme um ihn. „Ich hab dich lieb, okay?", sagte ich an seinem Ohr. „Und du hast definitiv was gut bei mir."
„Und ich wünsche dir wirklich 'ne coole Zeit." Er löste sich mit einem kleinen Lächeln von mir. „Lass dich nicht ausnutzen."
Die fürsorgliche Art meines Bruders erwärmte mein Herz. Manchmal überraschte es mich immer wieder aufs Neue, wie reflektiert er mit seinen sechzehn Jahren sein konnte. Er war es nicht immer, aber wenn, dann flutete es mich mit Stolz.
„Komm gut bei Tante Erin an und sei nett zu ihr. Es ist nicht ihre Schuld, dass du bei ihr wohnen musst."
„Ich werd's versuchen."
„Mach keinen Scheiß."
„Tschüss, Brooke."
„Und melde dich, wenn du angekommen bist!"
Er rollte die Augen, erklomm die wenigen Stufen des Zuges und war im Großraumabteil verschwunden, ehe ich auch nur die Chance hatte, noch etwas anderes zu sagen. Seufzend setzte ich mich in Bewegung, um parallel zu ihm auf dem Bahnsteig entlangzulaufen, bis er einen freien Platz fand.
„Benimm dich", formte ich stumm mit meinen Lippen, als er mich entdeckte. Verwirrt runzelte er die Stirn. Ich hob einen Finger und zückte mein Handy, um ihm eine Nachricht zu schicken.
Brooke:
Tante Erin holt dich vom Bahnhof ab und sagt mir Bescheid, wenn du da bist, also denk gar nicht daran, irgendwo auszusteigen und auszureißen! Hab dich lieb! Gute Fahrt! :)Entnervt funkelte er mich an. Ich konnte mir mein Grinsen nicht verkneifen, als ich einen weiteren Text tippte, obwohl ich meine Worte tatsächlich ernst meinte.

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Sommergewitter
RomanceWo strahlender Sonnenschein auf eiskalte Wellen trifft, schneidender Wind auf gespannte Segel und High Society auf urige Fischerdörfchen kollidieren die Herzen von Brooke und Alexander wie Donner in einem Sommergewitter. Drei Wochen als Kindermädche...