1 Eins

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vier Jahre später

Ein Schuss. Ich trat in das Schlafzimmer meiner Schwester, sie lag tot am Boden. Der Wandschrank, eisblaue Augen die mich durchbohrten.

Keuchend wachte ich auf, ich hatte ewig nicht mehr davon geträumt. Ich ließ mich erschöpft in mein Kopfkissen zurücksinken und linste auf meinen Wecker: 3:41 also noch circa 2,5 Stunden Schlaf. Ich wälzte mich hin und her, aber fand keinen Schlaf mehr. Schließlich stand ich auf und machte mir in der Küche eine Tasse Kakao.
Der Kakao war zu meinem nächtlichen Einschlafritual geworden, seit ich von Albträumen geplagt wurde. Ich setzte mich auf einen Küchenstuhl und genoss die Wärme der Kakao-Tasse in meinen Händen. Meine Hände begannen zu kribbeln, und weil ich es auf die Hitze schob, setzte ich die Tasse auf den wuchtigen Holztisch und pustete mir in die Hände, was das Kribbeln nicht stoppte.
Waren sie etwa eingeschlafen? Ich ballte sie zu Fäusten und streckte sie wieder, bis ich sie wieder einigermaßen spüren konnte, und beschloss, die Tasse mit nach oben zu nehmen.
Lina hätte mir die Hände massiert, bis das Gefühl verschwand, von tausend Nadeln gestochen zu werden. Ich biss mir auf die Unterlippe. Ich würde jetzt nicht in Tränen ausbrechen, aber ich vermisste sie so sehr. Wenn ich früher zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen wäre, hätte ich vielleicht... Stopp, du musst aufhören, sagte ich mir. Nur mit großer Mühe schaffte ich es, die Schuldgefühle aus meinen Kopf zu verbannen. Dank meiner Oma hatte ich mich so weit unter Kontrolle, um nicht jedes Mal einen Nervenzusammenbruch zu erleiden, wenn mich irgendwas an meine Vergangenheit erinnert. Mein Leben hatte sich fast wieder normalisiert, mit der Ausnahme, dass ich regelmäßig von Albträumen geplagt wurde. Meine beste Freundin Natalie hatte mit mir zusammen immer die verrücktesten Dinge angestellt um mich aufzumuntern. Und wenn es mir mal schlecht ging, nahm sie mich einfach in den Arm. Oma und Natalie waren die wichtigsten Personen in meinen Leben und ich war dankbar sie u haben
Ich trank noch einen Schluck aus meiner Tasse und machte mich dann auf dem Weg in mein Bett. Ich stellte meine Tasse auf mein Nachtschränkchen und schlüpfte unter die Bettdecke. Ich fühlte mich nirgendwo sicherer als hier. Der vertraute Geruch meiner Bettdecke kroch mir in die Nase und ich entspannte mich allmählich. Nachdem ich mit ein paar Mal hin- und her gewälzt hatte, konnte ich endlich wieder einschlafen.

Am nächsten Morgen saß ich mit tiefen Augenringen am Frühstückstisch, der Albtraum hatte mich ziemlich aus der Bahn geworfen. Meine Oma sah mich mit sorgenvoller Miene an, früher hatte sie mich immer getröstet, dieses Mal brauchte ich kein Mitleid, ich konnte das alleine schaffen.
Sie musterte mich eindringlich und meinte: „Wenn dich was bedrückt, kannst du es mir ruhig sagen." Ich nickte kaum merklich. „Ich schaff das schon." Sie seufzte. „Das ist meine Rose. Du bist ein tapferes Mädchen." Ich nickte erneut, ohne zugehört zu haben.
Als mir der Blick von meiner Oma zu eindringlich wurde, flüchtete ich ins Bad um mich für die Schule zurechtzumachen.
Ich putzte die Zähne, wusch mir das Gesicht, zog mich um und versuchte möglichst meine Augenringe mir Concealer zu verdecken.
Ich bürstete meine widerspenstigen hellbraunen Haare, die in alle Richtungen standen. Noch ein bisschen Wimperntusche und fertig. Niedergeschlagen betrachtete ich mein Spiegelbild. Für meine sechzehn Jahre war ich noch ziemlich klein und schmächtig Natalie war eine echte Schönheit, neben ihr sah ich aus wie ein verschreckter Hase. Meine Oma behauptete ich hätte bernsteinfarbene Augen, doch ich sah nur eine Farbe, die Hundekot zum verwechseln ähnlich sah. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass ich schon zu spät dran war. Ich bekam es nicht einmal auf die Reihe, mich für die Schule fertig zu machen. Ich rief meiner Großmutter noch ein hastiges „Tschüss" zu, schnappte mir meine Schultasche und verließ dann im Eiltempo das Haus.

Meine beste Freundin Natalie erwartete mich schon am Haupteingang der Schule und warf sich lachend in meine Arme. „Hi. Hast du viel für Mathe gelernt?" „Joa, geht", murmelte ich müde. Natalie warf mir einen besorgten Blick zu, sagte aber nichts. Es war ihr hoch anzurechnen, da sie zu den neugierigsten Menschen dieses Planeten gehörte. Doch statt immer den neuesten Klatsch zu verbreiten, sog sie alles in sich auf wie ein Schwamm. Sie war geübt darin, Menschen ihre dunkelsten Geheimnisse zu entlocken. Doch jedenfalls bei mir wusste sie immer wann es gut war nachzufragen wie es mir ging. Und während ich mich von ihr in ein Gespräch verwickeln ließ und sie mich darüber ausfragte was ich gestern getrieben hatte, versuchte ich die düsteren Gedanken an jene Nacht nicht an die Oberfläche treiben zu lassen. Als meine belanglosen Gedanken über mein Lieblingsessen mein Kopf immer mehr in Gelee verwandeln ließ, zog Natalie mich in das Klassenzimmer und ich erwachte aus meinen Träumereien.
Herr Weimann begann mich mit seinem Blick zu durchbohren und ich setzte mich schnell auf meinen Platz um mich unsichtbar zu machen.
Der langweilige Schultag zog sich dahin wie Kaugummi das unter meinen Stuhl klebte.
Dummerweise fasste ich genau hinein, als ich unter strenger Aufsicht meines Lehrers meinen Tisch in die „Tannenbaumformation" rückte.
Laut Herr Weimann sei das die perfekte Sitzordnung um den ganzen Klassenraum stehts im Blich zu haben. Die Mittagspause war viel zu schnell vorbei und nach zwei anstrengenden Stunden Physik wollte ich nach meinem Hausaufgaben mich nur noch mit meinem Lieblingsbuch in meinen alten Ohrensessel kuscheln, als mir einfiel dass ich noch für die Mathearbeit lernen musste, die morgen anstand. Es war bereits halb fünf und ich wusste, dass würde ein langer Abend werden. Mein Buch musste warten. Während ich mir die Themen anschaute, driftete mein Blick ab und zu sehnsüchtig Richtung Sessel. Als meine Uhr acht schlug, ließ ich meinen Kopf erschöpft auf den Schreibtisch sinken. Ich würde das nie in meinen Kopf bekommen. Ich biss mir auf die Unterlippe. Ich wollte jetzt nicht schon wieder eine schlechte Note in Mathe kassieren. Ich war nicht faul, doch je mehr Stunden ich vor meinen Schreibtisch verbrachte, desto weniger verstand ich. Die Variablen x und y tanzten vor meinem inneren Auge auf und ab. Ich war so schlecht, dass ich mich fragte ob es überhaupt etwas brachte hier noch länger zu sitzen. Nachdem ich ein paar Minuten verzweifelt auf mein Blatt gestarrt hatte, rief Oma zum Abendessen. Das ganze Haus roch nach Lasagne und ich war dankbar für die Ablenkung. Wir aßen schweigend und ich starrte die ganze Zeit betrübt auf meinen Teller. Schließlich fragte sie mich was los sei.

„Nichts.", murmelte ich.

„Wie geht es Hans?", versuchte ich abzulenken. Hans war unser Nachbar, der sich das Bein gebrochen hatte. Oma half ihm manchmal. „Ich habe gefragt was mit dir los ist." Sie schaute mich besorgt an. Ich zuckte mit den Schultern. Ich wollte ihr nicht die Ohren volljammern. Als sie mich dann aber anschließend eine halbe Ewigkeit mit ihren Blicken durch bohrte, war mir klar dass es nichts brachte. Also rückte ich mit der Sprache heraus: „Ich lerne schon die ganze Zeit Mathe, doch ich verstehe es kein bisschen. Ich bin so blöd, ich kriege gar nichts hin. Ach, ich bin zu blöd für die Welt." Ich versteckte meinen Kopf in meinen Händen. Ich war so blöd, selbst ein Stein war schlauer als ich. Ich war nicht besonders schön, großzügig oder mutig. Ich war ein kleines dummes Ding, das nichts auf die Reihe bekam. Ich war so gut wie unsichtbar.

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Als ich kurz davor war wieder in meinen Zimmer zu verschwinden, hielt mich Oma auf, mit dem Versprechen, mir etwas ganz besonderes zu zeigen. „Was willst du mir zeigen?" Ich schob mir eine Haarsträhne hinters Ohr. „Etwas ganz Besonderes.", wiederholte sie. Wir liefen weiter bis in ihr Schlafzimmer. Sie nahm meine Hand, leuchtete mich mit ihren funkelnden Augen an und mir war mal wieder bewusst, was für eine schöne Frau sie gewesen sein musste. Oder immer noch war. Eine schöne Frau, die ich niemals sein würde.
In meinen Bauch kribbelte es aufgeregt. Was wollte sie mir zeigen? Ihr altrosa Nachthemd schlackerte aufgeregt um ihre Beine als sie mich vor den Spiegel zog.
Sie fuhr durch mein Haar. „Du, Rose.", flüsterte sie in mein Ohr. „Was ich?" „Du bist das was ich dir zeigen wollte." Ihre warmen braunen Augen funkelten wie Diamanten. „Innerlich wie äußerlich." Bevor ich widersprechen konnte, begann sie einfach weiterzureden „Du glaubst mir nicht? Das solltest du aber. Wenn du mir nicht glaubst, hier ist der Beweis." Sie öffnete meine Hand und legte etwas Kühles, Glattes in die Handfläche. Sie zwinkerte mir zu und ließ mich allein.
Völlig verwirrt, stand ich wie angewurzelt vor dem Spiegel.
Ein paar Augenblicke später verließ ich das Zimmer mit meiner Unterlippe zwischen den Zähnen. Erst als ich mich einigermaßen wieder gefasst hatte, öffnete ich die Hand. In meiner Hand lag ein Medaillon, aus Email, so schön, dass ich schmunzeln musste. Vielleicht war ich doch nicht so ein übler Mensch. Zu meinem Erstaunen lag eine rosa Rosenknospe im Inneren, die einen Duft versprühte, als wäre sie gerade erst von einem Strauch gezupft worden. Sie war kurz davor aufzugehen. Ich schloss das Medaillon wieder und zeichnete mit meiner Fingerkuppe die feinen Muster nach, die eine Rose bildeten. Alles war so fein verarbeitet. So wunderschön.
Es duftete selbst immer noch nach Rosen, als ich einschlief. Ich hatte es mir um den Hals gelegt und ich fiel in einen tiefen Schlaf...

Ich stand auf einem Feld voller Rosen. Ich trug ein weißes Kleid das meine Beine umwehte. Der Duft von Rosen erfüllte die Luft und machte sie fast greifbar. Der Wind spielte mit meinen Haar und ich atmete die frische Luft ein. Ich roch den Duft, schmeckte ihn auf der Zunge und spürte ihn in jeder Faser meines Körpers.
Ich spürte dass ich ein Teil von ihnen war, ich war eins mit ihnen. Ich stand da, offen und bereit, für jeden da zu sein, jedem zu helfen, jedem zur Seite zu stehen, könnten sie ihre Wünsche nur in Worte fassen. Ich reckte meinen Kopf gen Himmel und Gefühle des Glücks und Stärke flossen durch meinen Körper.

Ich war bereit. Für was, wusste ich nicht einmal selbst. Ich breitete die Arme aus und schloss die Augen. Es war einfach nur atemberaubend hier zu stehen. Einfach nur elektrisierend. Langsam wurde mir bewusst, dass ich gut war. Es war als würde sich mein Innerstes öffnen, wie eine Knospe, die ihre innere Schönheit zeigte. Es war als würde sich in mir alles Wissen offenbaren was in mit schlummerte. Ich war Rose, die Königin der Blumen.
So schnell wie sich mein Inneres entfaltet hatte, und dieses unbeschreiblich schönes Gefühl in mir aufkam, wurde es von etwas erdrückt, das schwer auf meinen Schultern lastete wie eine Schultasche voller Bücher. Es nahm mir kurz den Atem und jetzt wusste ich auch was es war: Verantwortung.

Ich öffnete die Augen wieder und sah mich um. Ich war wieder in meinen Zimmer, auf meinem Bett mit dem Medaillon auf der Brust. Ich öffnete es wieder. Darin fand ich eine Blüte, so groß, dass sie gerade noch hinein passte.
Ihr Duft ließ mich lächeln und ich beobachtete, wie goldene Partikel um die Rose tanzten. „Wow", stieß ich hervor. Doch irgendetwas stimmte mit ihr nicht. Ich untersuchte sie genauer und bemerkte, dass ein großer Teil der Blütenblätter fehlte. Es sah aus als hätte sie jemand abgezupft. Ein drückendes Gefühl machte sich in mir breit, und es fühle sich an als würden Steine in meinen Magen liegen. Warum fehlten Blütenblätter? Waren sie schon vorher nicht da gewesen? Ich schloss das Medaillon wieder und begab mich ins Bad, um mich bettfertig zu machen.

Da ich mich nicht mehr auf Mathe konzentrieren konnte, las ich noch ein bisschen und legte mich schließlich ins Bett. Morgen würde ich meine Oma zur Rede stellen, doch jetzt schlief ich mit einem Gefühl ein, dass mir einflüsterte, ich sei so schön wie ich war.

Die Magie der RoseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt