17 Siebzehn

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„Hast du schon mal etwas von et specculum gehört?" „Ja." „Ich schätze, du kennst nur den Begriff, weißt aber nicht was es bedeutet." „Exakt." Die Spannung wuchs in mir. Endlich würde ich erfahren, was es bedeutete! „Man nennt es auch der Spiegel." Er schwieg einen Moment und starrte auf dem Tisch, als müsse er sich irgendwie konzentrieren. Ich war nicht schlauer als zuvor, „Es ist eine Art Verwandlung. Du weißt doch, dass die Rose in deinem Medaillon deinen inneren Emotionen darstellen." Ich nickte. Ich sog jedes Wort von ihm auf wie ein Schwamm. „Kam es schon mal vor, dass Blätter gewelkt sind und nicht mehr zurückgekommen sind?" Wieder nickte ich. „Wenn deine Blüte ganz verwelkt ist und du so tief traurig bist, dann beginnt die Verwandlung. Du spürst so viel auf einmal und gleichzeitig nichts. An deiner Stelle würden überall Rosen wachsen, und auf einmal bist du unendlich müde. Irgendwann verlierst du dein Bewusstsein. Und glaub mir, wenn du aufwachst, bist du nie wieder dieselbe." Meine Schneidezähne schnitten noch tiefer in meine Lippe. Ich konnte fast hören, wie sich die einzelnen Puzzleteile in meinem Kopf zusammenfügten. „Sowie Milla. Und sie wird nie irgendetwas spüren, und das alles nur wegen..." Meine Stimme wurde weinerlich. „Diesen beschissenen BH! Wer wollte das ihr und Newt nur antuen?" „Dazu kommen wir gleich." Er schaute mich wieder an. Wozu dieses Getue? „Die Verwandlung bewirkt auch noch etwas." Er starrte mich immer noch an, und ich hatte das Gefühl, dass er jede Bewegung von mir mit Argusaugen musterte. Warum konnte er noch endlich zum Punkt kommen? „Es verändert deine Gabe." Warum sprach er die ganze Zeit von mir? Das machte mir Angst. „So wie deine?", hakte ich nach. Er nickte kaum merkbar. „Entweder sie verwandelt sich ins Gegenteil, oder sie verstärkt sich. Aber das ist noch nicht alles. Du wirst stärker und schöner und solche Sachen wie Pickel, Narben oder körperliche Probleme verschwinden einfach, du wirst stärker und deine Sinne schärfen sich." Er hielt kurz inne. „Ich habe den Spiegel schon hinter mir." Warum erzählte er mir das alles? Ich war so froh, Antworten zu finden doch sie warfen nur weitere Fragen auf. Warum gab es keinerlei Informationen über dies hier? Warum lernten wir so etwas Wichtiges nicht in der Schule? Welches Ereignis hatte ihn verwandelt und... Ich erstarrte. Wenn er nichts mehr fühlen konnte, liebte er mich dann überhaupt? Ich spürte, wie sich meine Armhaare aufstellten. Bitte, das durfte nicht wahr sein! Ich konnte an nichts anderes mehr denken. Meine Unterlippe brannte, doch ich nahm es kaum wahr. Ich traute mich nicht zu fragen, und versuchte die Fassung nicht zu verlieren. „Warum konnte ich nichts darüber herausfinden?", fragte ich, doch das einzige, was alle meine anderen Gedanken beiseiteschob und unwichtig wirken ließ und sich in meinen Kopf ausbreitete wie ein Luftballon, der gerade aufgepumpt wurde war: Liebte er mich wirklich? „Weil Gorn es verhindert." „Warum?" „Das wirst du gleich verstehen." Er war so ruhig wie ein Fels in der Brandung, und in diesem Fall war ich die Brandung. Meine Fragen klatschten gegen den Felsen und wurden hin und her geworfen. „Die Leute in den Betten, die du höchstwahrscheinlich gesehen hast, sind alle verwandelt. Wir bekommen ein Tattoo als Erkennungszeichen." Er drehte seinen Kopf nach rechts und er deutete auf sein Tattoo, das sich deutlich hinter seinem Ohr abzeichnete. Ich kniff die Augenbrauen zusammen. Mittlerweile schauten wir und wieder in die Augen, und ich konnte mein aufgeregtes Spiegelbild in seinen Augen beobachten. „Die Verwandelten sorgen dafür, dass wir alle begabten Menschen aus allen Flecken der Welt hierherbringen."

„Und dafür, dass Eltern ihre Kinder vergessen.", entgegnete ich tonlos. Wie konnte man bei nur so einer schlimmen Sache mitmachen? Konnte man die Kinder man nicht einfach mit einem Brief hierherschicken? Musste man sie gleich entführen? Als hätte Jo meine Gedanken gelesen, meinte er: „Es ist einfacher und sicherer. Die Kinder bleiben hier, weil sie dort draußen niemanden haben, und es kann uns niemand verraten." Ich schaute ihn fassungslos an. Er hatte keinen Funken Mitgefühl. Ich erkannte ihn nicht wieder. Waren seine ganzen Gefühle nur gespielt gewesen? Ich wollte es nicht wahrhaben. Meine Augen wurden feucht, doch ich versuchte mit aller Macht dagegen anzukämpfen. „Und wie stellt ihr das an?", flüsterte ich. „Eine von uns hat die Gabe, vergessen zu lassen. Meistens packen wir ein Stück Magie in ein Paket, und derjenige, der es als erstes berührt, an den kann sich später niemand mehr außer uns erinnern." Eine Träne rollte meine Wange hinunter, doch ich wischte sie schnell weg. Wie hatte ich es geschafft, die ganze Zeit zu verdrängen, dass er mithalf, Menschen ihr normales Umfeld zu rauben? Ich biss mir auf die Unterlippe. „Warum machst du da mit?" Ich versuchte meine Stimme so emotionslos wie möglich zu halten, was mir nicht sonderlich gut gelang. „Du kennst Gorns Gabe." Woher wusste er etwas über meine Vermutungen? Hatte Gorn ihm es erzählt? Er war überall. Eine Gänsehaut breitete sich auf meinem gesamten Körper auf. Konnte er dieses Gespräch mithören? Konnte er jetzt, in diesen Monet hören was ich denke? „Manche von uns drehen wegen der ständigen Kontrolle durch. Irgendwann hat man uns so gedrillt, dass sie auch ohne seine Gabe gehorchen. Milla zum Beispiel kann nicht mehr heilen, sondern anderen Schmerzen zufügen. Gorn will eine Art Armee schaffen. Er hat es ganz besonders auf dich abgesehen." „Was? Warum ich?" Mein Herz setzte eine Sekunde aus. Hatte Gorn nicht mal davon gesprochen, Ich würde etwas ganz Besonderes sein? Bei den Gedanken verwandelt zu werden, drehte sich mein Magen um. Ich ballte meine Hände zu Fäusten. „Was denkst du, warum deine Eltern tot sind? Er wollte dich verwandeln, um an deine Gabe heranzukommen." Ich verkrampfte mich. Er hatte meine Eltern und Lina getötet, nur, dass ich mich verwandle? Das war absurd. Es hatte nicht funktioniert. Hatte ich nicht meine Familie nicht genug lieb gehabt? Schuldgefühle stiegen in mir auf. Ich hatte so sehr gelitten, weshalb hatte ich mich nicht verwandelt? Wie konnte man nur so gefühllos sein? „Was ist denn jetzt mit meiner Gabe?" In meinem Bauch brodelte es vor Wut. Was war so wichtig an mir, dass meine Familie dafür sterben musste? „Wenn deine Gabe sich spiegelt kannst du jeden erdenklichen Zauber brechen. Selbst die Macht der Urmagie könnte dir nichts anhaben." Ich verstand nicht, wie er so ruhig bleiben konnte. Ich konnte es nicht mehr verhindern und Tränen quollen aus meinen Augen. „Er braucht dich, um an die Insignien heranzukommen, die alle mit den gefährlichsten Zaubern geschützt sind. Wenn er sie hat, hat er sie Macht über die jeweiligen Elemente. Wasser, Feuer, Erde, Licht, Dunkelheit, Luft und Zeit. Er ist nicht verwandelt, und er hasst es etwas zu fühlen, menschlich zu sein. Er würde sich am liebsten auch verwandeln, doch es gibt nichts und niemanden mehr, was ihn erschüttern könnte. Das Einzige wonach er strebt ist Macht und Unsterblichkeit. Er war in meinem Kopf, ich kenne sein krankes Hirn." Eine Weile war Stille, und ich unterdrückte einen Schluchzer. Es wurde alles immer schlimmer. Gorn wollte jetzt plötzlich die Welt ins Chaos stürzen, und das mit meiner Hilfe? Das war so absurd, wäre meine Familie nicht tot, würde ich Jo kein Wort glauben. „Das ist aber nicht das einzige Problem. Werden die Insignien aus ihrem Energiepol gerissen, gerät alles aus dem Gleichgewicht. Wird aus obscuritas der Mondstein gestohlen, wird es höchstwahrscheinlich keine Nacht mehr geben.

Die Magie der RoseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt