29.5 Neunundzwanzig (Teil 2)

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Eine Blumenwiese. Schon wieder. Wieder hatte ich ein weißes Kleid an und wieder roch alles nach Rosen. Ich roch nach Rosen. Auch wenn mir eigentlich dieser Geruch willkommen sein sollte, rümpfte ich die Nase. Dieser Geruch war so...dramatisch. Zu dramatisch für dieses kitschige Ambiente. Ich wurde von einer leichten Brise heimgesucht. Gab es hier Zecken? Alles wirkte so künstlich. So perfekt. So heil. Gänseblümchen kitzelten an meinen nackten Zehen. Ich wartete. Auf was oder wen, das wusste ich selbst nicht genau. Ich starrte in den beinah wolkenlosen Himmel. Ich wollte, dass sich etwas änderte, dass sich die Landschaft änderte, dass ich von hier weg kam. Ich fing an zu rennen. Der Wind rausche in meinen Ohren, ich wollte nur dieses unangenehme Gefühl loswerden, das mich festhielt und gleichzeitig drängte zu bleiben. Tränen liefen mir über die Wangen, meine Umgebung verschwamm zu einer Masse aus Blau, Grün und Rot. Ich fiel. Oben und unten vermischte sich zu einem Wort: Bleib.

Eine warme Hand legte sich auf meine Wange. Ich schreckte kurz zusammen, bis ich bemerkte, dass es Jo war. Ich legte meine Hand auf seine. „Schlecht geträumt?", flüsterte er und strich eine Träne von meiner Wange. Ich nickte kaum merkbar. Er zog mich in eine Umarmung. „Wenn du reden willst, bin ich für dich da." Sein Atem kitzelte an meinem Ohr. „Danke.", hauchte ich nur. Ich wusste nicht mal selbst, warum ich heulte. Aber ich war dankbar dafür, dass er sich um mich sorgte. Wir küssten uns und ich schmiegte mich an ihn. Wir mussten eingeschlafen sein, denn ich wachte an seiner Seite aus. „Aufstehen!", rief eine müde Stimme. Titus. Ich wusste nicht, wie viel Uhr es war, aber mein Körper sagte mir, dass es für mich definitiv noch zu früh war. Ich atmete ein letztes Mal Jos Duft ein, bevor ich schließlich meine verklebten Augen aufriss. Licht durchflutete die Turnhalle und ich hielt meine Hand schützend vors Gesicht. Ich setzte mich auf. Neben mir räkelte sich Milla und Newt schien auch langsam wach zu werden. Emelie schlug schon putzmunter Saltos durch die Luft. Titus stand mit verschlafener Miene mitten im Raum. „Wenn ihr nicht in zwanzig Minuten von einen Haufen Fünftklässler über den Haufen gerannt werden wollt, solltet ihr jetzt aufstehen. Ich muss euch noch im Sekretariat abladen und zum Unterricht muss ich auch." „Warum hast du uns nicht früher geweckt?", brummte Milla genervt. „Weil...nicht so wichtig." Er zog echt keine Leine, bis wir alle kerzengerade auf dem Matratzen standen. Wir packten unser Lager zusammen und zogen uns an. Zähne putzten wir nicht, da Titus uns eine Dusche und Frühstück versprochen hatte. Wir sollten ihn in der Aula treffen. Er erwartete uns schon, ungeduldig hin und her wippend. „Kommt." Er führte uns in den ersten Stock zum Sekretariat. Eine kleine Frau mit wilden Locken erwartete uns. „Hallo.", meinte sie erwartungsvoll. Sie war mir schon von Anfang an sympathisch. „Hallo.", grüßte Titus. „Diese fünf hier wollen sich anmelden. Da sie direkt von der Supay geflohen sind, haben sie aktuell keine Erziehungsberechtigten. Wenn es Probleme geben sollte, kontaktieren sie einfach Akaya." Die Sekretärin hob überrascht die Augenbrauen. Ich fühlte mich wie ein kleines Kind, protestierte aber nicht. Was sollte ich schon sagen? Sie führte zu uns einen Laptop. Wir mussten Formulare ausfüllen. Name, Geschlecht, Gabe, Geburtsdatum und so weiter. Außerdem konnten wir uns gleich bei AGs anmelden Adresse und Erziehungsberechtigte ließen wir selbstverständlich aus. Ein Stich in meiner Brust erinnerte mich daran, dass ich jetzt, wie die anderen auch, ganz auf mich allein gestellt war. Mein Blick fiel auf meine Freunde. Na ja, jedenfalls im familiären Sinne. Ich scrollte mich durch die AGs. Theater AG, Big Band, Fußball... Ich stockte. Eine Kletter AG. Wie ferngesteuert klickte ich darauf. Das musste ein Zeichen sein. Ein Versprechen, dass alles besser werden sollte. Ich war fertig und ließ Milla an den PC. Ich war früher mit Lina immer klettern gewesen. Es war meine Leidenschaft gewesen. Bis zu jener Nacht. Ich zog in ein anderes Dorf, eine andere Region, in dem es nichts zum Klettern gab. Und ich fing an zu lesen. Mich von dem Schmerz abzukapseln. Seit vier Jahren hatte ich Kletterwände gemieden. Ich hatte es verdrängt. Und jetzt... ich realisierte was ich getan hatte. Ich würde wieder mit meiner Vergangenheit konfrontiert werden. Unsicher räusperte ich mich. „Kann...kann ich mich bei einer AG wieder abmelden?" Die Sekretärin schüttelte den Kopf. „Das hättest du dir früher überlegen sollen. Aber wenn es dir wirklich nicht gefällt, kannst du dem Leiter dann persönlich sagen, dass du doch nicht dahin willst." Ich nickte und schlang meine Arme um meinen Oberkörper. Ich hätte nicht so unüberlegt handeln sollen. Jeder von uns bekam ein Stundenplan, da es keine Klassen mehr gab und Schlüssel für unsere Zimmer. Wir hatten für heute frei und durften uns einleben, bis es morgen mit dem Unterricht losging. „Du bist mit Grace in einem Zimmer.", stellte Titus fest, als er einem Blick auf meinen Schlüssel warf, indem eine Zimmernummer eingraviert war. Innerlich stöhnte ich auf. Wie viel Pech konnte man haben? „Kann ich euch alleine lassen? Ihr findet die Schlafzimmer, wenn ihr links den Gang entlang läuft. Ihr kommt dann zu einem Art Glastunnel, der dann im Neubau mündet. Rechts sind die Jungs, links die Mädchen. Verstanden?" Wir nickten. Titus verschwand in den Unterricht und wir verließen das Sekretariat. Als Titus außer Sichtweise war, kam Emelie zu mir hinüber geschwebt. „Wenn du willst, können wir tauschen.", raunte sie mir zu. „Dann bist du mit Milla in einem Zimmer." „Wenn es für dich in Ordnung ist."; meinte ich etwas überrumpelt. „Ja, das geht klar." Sie drückte mir ihren Schlüssel in die Hand und nahm stattdessen meinen. Wir folgten Titus Anweisungen und fanden uns in einemm Tunnel wider, der fast ausschließlich aus Glas bestand. Er stellte einen Übergang zwischen den Viktorianischen Gebäude und einem Anbau dar. Von hier aus konnte man in einen Innenhof blicken. Asphalt, ein paar Bäume, um diese sich Bänke tummelten. Ich entdeckte Sonnenbänke und die Turnhalle, in der wir übernachtet hatten. Sie grenzte am Hauptgebäude an und bildete mit den anderen Gebäuden ein U, das den Innenhof einschloss. Ob es hier auch eine Bibliothek gab? Als der Gang schließlich zu Ende war, trennten wir uns und wir Mädchen verschwanden nach links. Der Gang war hell erleuchtet und Parkettboden war ausgelegt. Ab und zu kamen wir an einer Tür vorbei, die mit dem Zeichen einer Dusche versehen war. Auch wenn ich Gemeinschaftsduschen hasste, war ich froh sie zu sehen. Die erste Dusche seit zwei Wochen. Wenn ich mein Zeug abgestellt hatte, würde ich gleich unter die Dusche hüpfen. Als das Zimmer mit der Nummer 221 auftauchte, verabschiedeten wir uns von Emelie und schlossen die Tür auf. Der Duft von Waschmittel kam uns entgegen. Im Zimmer standen zwei Stockbetten, von den jeweils die unteren Betten frei waren. Das war aber zu erwarten gewesen. Es gab nicht viele Menschen, die gerne unten schliefen. Ich stellte meinen Rucksack auf dem nächst gelegenen Bett ab. Dort lag schon Bettwäsche, fein säuberlich zusammengefaltet. Als ich genauer hinschaute, entdeckte ich auch ein weißes Handtuch. Ich schaute mit etwas um. Die Betten waren links und rechts an der Wand abgestellt. Weiter vorne befanden sich jeweils an jeder Wand zwei kleine Schränke. Der Raum war größer als gedacht, Es gab vier kleine Schreibtische und in einer Nische entdeckte ich eine Tür, die zu einem Waschbecken mit kleiner Toilette führte. Ich blieb unschlüssig vor den Kleiderschränken stehen. Woher sollte ich wissen, welcher leer war? Ich schaute ratlos zu Milla und wollte gerade den Mund aufmachen, als sich plötzlich im Bett über mir sich etwas bewegte. „The wardrobes on the left side are free.", sagte plötzlich eine zartes Stimmchen, und ich entdeckte ein kleines Mädchen unter der Bettdecke. Es war wirklich sehr klein und ihre rote Nase ließ mich an Pumuckl denken. Ich war so perplex, dass ich erstmal kein Wort aus ihrem Mund verstand. Als Milla meinen verdutzen Gesichtsausdruck sah, meinte sie: „Wir können die Kleiderschränke auf der rechten Seite nehmen." „Achso.", meinte ich und sah zu den Mädchen hoch. Ihr Haar war fast schneeweiß. Sie setzte sich auf und schlug die Bettdecke zur Seite. „Hello. I'm Leilani. But call me Lei." „I'm Rose.", sagte ich und lehnte mich an den Schrank. „My name is Milla. Are you ill?" „Ja.", meinte sie auf Englisch. „Das bin ich andauernd." „Lass mich dir helfen. Ich kann heilen.", sagte sie ebenfalls auf Englisch. Leis Augen wurden groß. „Das wäre nett." „Gib mir deine Hand.", erwiderte Milla. Sie tat es und ich sah zu, wie die Rötung an ihrer Nase verschwand und ihre Augenringe mit dazu. „Danke.", murmelte sie, mit einer schon etwas kräftigeren Stimme. Sie kletterte die Leiter hinunter und gesellte sich zu uns. „Ihr seid also unsere neuen Zimmergenossen.", stellte sie fest und musterte uns genau. „Was hast du für Kräfte, Rose?", fragte sie mich direkt. „Ich kann Magie brechen.", sagte ich auf Englisch. Sie nickte, als hätte sie das schon gewusst. „Das ist aber nicht deine richtige Gabe.", stellte sie fest. Überrascht hob ich die Augenbrauen. Woher wusste sie das? „Ach, das war nur eine Vermutung.", meinte sie, als hätte sie meine Gedanken gelesen. „Kannst du Gedanken lesen?", fragte ich prompt. Sie lächelte. „Nein, aber ich glaube meine Kräfte fangen an sich zu entwickeln.", meinte sie freudig. „Wie alt bist du?", wollte ich wissen. „Vierzehn." Vierzehn? Sie sah nicht älter aus als elf. „Wenn du keine Gedanken lesen kannst, was dann?", Milla hatte sich auf ihr Bett gesetzt. „Ich weiß es nicht." Sie lächelte mich breit an.

„Aber ich habe von dir geträumt."

Die Magie der RoseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt