30 Dreißig (Teil 1)

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Ich starrte sie mit großen Augen an. „Ihr habt viel durchgemacht. Hier seid ihr erstmal sicher. Habt ihr schon Sonnenbrillen bekommen?" „Lenk nicht ab." Milla war aufgestanden. „Du hast von ihr geträumt?" Sie schluckte. „Ich will nichts falsches sagen, ich weiß selbst nicht was das alles bedeutet. Bitte lasst mit Bedenkzeit." Milla schob das Kinn vor. „Also schön. Was hat es mit den Sonnenbrillen auf sich?" Sie lächelte gewinnend. „Ihr müsst euch welche in der Stadt kaufen, wenn ihr keine habt. Wir leben auf einen glatt polierten Stein, der zur aufgehenden Sonne ausgerichtet ist. Gleich geht die Sonne auf. Ihr könnt welche von mir ausleihen." Sie ging zu ihrem Schrank und drückte uns zwei verschiedene Sonnenbrillen in die Hand. Ich warf Milla besorgte Blicke zu. Wir hatten kein Geld. Wir konnten nur hoffen, dass diese Schule von Staat finanziert wurde. Ich setzte die katzenhafte Sonnenbrille auf. Lei grinste. „Hier drinnen braucht ihr keine anzuziehen. Die Fenster sind getönt." Peinlich berührt setzte ich die Sonnenbrille ab und legte sie auf einen leeren Schreibtisch. Ein unangenehmes Schweigen breitete sich im Raum aus. Um die Situation zu retten, meinte Milla: „Ich glaube wir gehen erstmal duschen." „Gibt es hier eine Schuluniform?", fragte ich hoffnungsvoll, denn ich wollte nach einer Dusche auf keinen Fall in meine stinkigen Klamotten zurück. „Ja, aber die ist freiwillig. Allerdings zieht kaum jemand sie an, das sie so teuer ist." Enttäuscht ließ ich den Kopf hängen. „Kann man hier irgendwo frische Kleidung bekommen, die nichts kostet?", fragte Milla einfach frei heraus. Lei grinste. „Nehmt einfach was von Ivy. Meine Kleider passen euch bestimmt nicht. Der macht das nichts aus. Und selbst wenn, sie hat so viele Klamotten, dass sie das sowieso nicht bemerken würde." Sie ging zu einem der Schränke und öffnete ihn. Lei wurde von einem Berg aus Kleidung begrüßt, der ihr entgegenfiel. „Bedient euch. Ich geh wieder ins Bett." Sie kletterte flink die Leiter hoch. „Also schön.", murmelte ich auf Deutsch und hob eine Jeans auf, die mit ein paar BHs, einem Crop top und einer Socke sich auf dem Fußboden gemütlich gemacht hatte. Wenn jemand in meiner Unterwäsche rumwühlen würde, würde ich denjenigen kalt machen. Vorsichtig schnupperte ich an der Jeans. Sie roch ein bisschen nach Schrank, war aber sonst gut für mich geeignet. Schnell stopfte ich die BHs zurück in den Schrank. Da Unterwäsche klein und kompakt war, würde ich bestimmt noch ein paar frische in meinem Rucksack finden. Milla und ich hatten uns dem Rucksack geteilt. Hoffentlich fand sie auch noch was von ihr. Etwa eine Viertelstunde benötigten wir um für uns beide etwas brauchbares zu finden Der Kleiderschrank war. Hoffnungslos übefüllt und zu einem chaotischen Haufen zusammengepresst. Außerdem standen auf den meisten T-Shirts nicht immer ganz anständige Sprüche. Als wir die für uns bestimmten Schränke öffneten, bemerkten wir, dass Ivy sich auch dort ausgebreitet hatte. Lei war zu meiner Erleichterung wieder eingeratzt. Ich wusste nicht, ob ich sie gruselig oder sympathisch finden sollte. An der Tür entdeckte ich einen außer einem Fluchtplan noch einen Plan für die Schmutzwäsche. Es war genau dokumentiert, welche Zimmer welche Waschmaschinen benutzen durften. Unser Zimmer war mit fünf anderen am Samstag dran, Ich zeigte Milla den Plan und sie war genauso begeistert davon wie ich. Noch drei Tage mussten wir mit unserer schmutzigen Kleidung herumlaufen. Na ja, es gab schlimmeres. Und an das schlimmere wollte ich jetzt nicht denken, wenn ich nicht in Selbstmitleid baden wollte. Mittlerweile war ich genug geübt, alles traurige aus meinen Kopf zu verbannen. Ich musste aufhören, daran zu denken. Also schnappte ich mir das nötigste und machte mich mit Milla auf zu den Duschen.

Zerknirscht pumpte ich Shampoo aus dem Seifenspender. Manche Mädchen hatten hier ihr Duschgel, Haarspülungen und sonstige Pflegemittel hier herumstehen, während ich mal wieder feststellen musste, dass ich pleite war. In der Supay hatte mir das nichts ausgemacht, weil alle das kostenlose Shampoo benutzten. Jetzt roch ich wie die Seife aus dem Schulklo. Ich musste unbedingt irgendwo an Geld kommen, damit ich mir eigene Kleidung, Rasierer und andere Sachen besorgen konnte. Trotz allem fühlte ich mich auch ohne Haarbürste tausendmal wohler als nach der Dusche. Ich war froh nur Schulterlanges Haar zu besitzen, das mit den Fingern noch einigermaßen durchkämmbar war. Milla sah mit ihren langen, krausen Haar aus wie eine Vogelscheuche. Ivys Kleidung war mir etwas zu groß, roch dagegen aber wunderbar frisch. Mit einem besseren Gefühl in der Magengegend verließen wir die Duschen und ließen uns von Lei den Weg zur Cafeteria erklären, in der das Essen kostenlos war. Auf dem Weg trafen wir die Jungs, denen es ähnlich ergangen war wie uns. Jo und Newt waren in zwei separate Zimmer untergekommen, hatten jedoch nicht den Luxus von frischer Kleidung genießen können. Als wir in die fast leere Mensa kamen, saß Emelie schon an einem Tisch und winkte uns zu. Wir gesellten uns zu ihr. Emelie schob sich mit leuchtenden Augen ein Stück Brot mit Spiegelei in den Mund. „Die Spiegeleier müsst ihr unbedingt mal probieren.", riet sie uns schmatzend. Newt musste grinsen. „Dir scheint es hier zu gefallen. Wo hast du frischen Klamotten her?" „Grace hat mir alles geliehen." Ich starrte sie mit großen Augen an. „Die Grace? Ich meine..." „Ja, sie kann echt nett sein. Keine Ahnung warum sie etwas gegen dich hat." Sie lehnte sich zurück. „Ich würde sagen, wir melden uns für den Außendienst an. Sozialdienst ist nicht so meins und ich möchte nicht auf Kosten anderer Leben." Verwirrt runzelte ich die Stirn. „Außendienst? Bekommen wir dafür Geld?", wollte Milla wissen. „Ja. Neun Pounds pro Stunde. „Ich weiß nicht ob das so eine gute Idee ist.", warf ich ein. „Denkt nur an Gorn." Emelie zuckte ihre Schultern. „Wir sind hier in Schottland, Rose. Ich bezweifle, dass er uns hier finden kann." „Aber er hat doch seine Tengams überall." Ich schaute hilfesuchend zu Jo. Er müsste das doch am besten wissen. „Rose hat recht.", meinte Jo. „Das zu riskant." Emelie presste die Lippen aufeinander uns beugte sich über den Tisch. „Wenn wir beim Außendienst arbeiten können wie Titus und Grace, dann sehen wir Akaya öfter." „Und? Ich habe keine Lust dieser hochnäßigen Pute nochmal zu begegnen.", entgegnete Newt. Emelie seufzte. „Überlegt doch mal. Sie hat arbor und wenn wir öfter in ihrer Nähe sind, können wir sie leichter klauen." „Warum sollten wir? Wir konnten endlich die Verantwortung abgeben. Die regeln das schon.", warf ich ein. „Ach ja? Newt hat Recht. Die Pute hat doch keine Ahnung. Die weiß doch nicht mal, dass nur du arbors Magie nutzen kannst und wie sie funktioniert." „Dann sagen wir es ihr einfach."; meinte ich schulternzuckend. „Du bist zu naiv, Rose.", mischte sich jetzt auch Jo ein. „Ich bin dafür, dass wir uns für den Außendienst melden. Ich brauche dringend frische Klamotten." „Also schön.", gab ich mich geschlagen. „Aber ich mache da nicht mit. Das ist mir zu riskant." „Ich auch nicht.", kam es aus Newts Mund. „Eure Entscheidung.", beendete Emelie das Gespräch mit einem schnippischen Unterton. „. Wir müssen arbor zurück bekommen. Ihr werdet schon sehen, dass ich Recht habe. Aber macht was ihr wollt." Milla verdrehte unauffällig die Augen. Das war typisch Emelie. Ich versuchte mir nicht so viel daraus zu machen und fing an zu essen. Ich hatte von wilden Verfolgungsjagden, Leichen und Vergessenszaubern allemal genug. Egal was für Arbeit dort verrichtet werden musste, das Risiko mich Gorn auf dem Silbertablett zu servieren war mir zu groß. Wenn meine Freunde in falsche Hände gerieten, würde ich mir das nie verzeihen. Aber wenn Emelie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, war es praktisch unmöglich sie davon abzuhalten. Ich konnte meine Freunde ja schlecht mit Plüschhandschellen an die Schulbank fesseln. Auch wenn mir allein beim Gedanken ihnen könnte etwas zustoßen das Essen hochkam, meinte ich: „Bitte passt auf euch auf." „Uns passiert schon nichts.", stöhnte Emelie genervt. Nun musste auch ich die Augen verdrehen. „Emelie, verdammt, das ist kein Spiel." Sie knallte ihr Messer auf den Tisch. „Du hast doch nur ein schlechtes Gewissen, dass wegen dir jemand wieder draufgeht. Wenn du wirklich meine Freundin bist, dann müsstest du doch verstehen, dass ich nicht nach deiner Pfeife tanze!" Ich starrte sie fassungslos an. „Schon mal darüber nachgedacht, dass ich mir einfach nur Sorgen mache? Ich..." „Ich brauche keinen Babysitter, der nicht mal den verdammten kleinen Zeh vor die Tür setzt! Du bist einfach nur feige!", schleuderte sie mir entgegen. Mir reichte es. Mir war schlecht. Ich sprang auf und versuchte die Mensa zu verlassen, ohne loszurennen. Ich brauchte frische Luft. Ich holte Leis Sonnenbrille aus dem Zimmer und machte mich auf zum Pausenhof. Als mir bewusst wurde, dass ich wieder weggerannt war wie ein feiges Huhn, fing ich an mich zu schämen. Doch gleichzeitg keimte neue Wut in meinem Bauch und ich hatte den Drang irgendetwas zu zerstören. Konnte Emelie nicht einfach mal akzeptieren, dass das etwas zu hoch für uns war? Sie wollte sich immer überall einmischen, alles besser wissen. Akaya würde schon das richtige tun. Natürlich hatte ich auch Schuldgefühle, wenn meinen Freunden egen mir etwas geschah. Aber die hatte ich, weil sie meine Freunde
waren. Wenn sie von einer anonymen Straßenbande überfallen worden wären, würde ich mir genauso Sorgen machen. Wie konnte sie mir nur so etwas unterstellen, nach allem, was wir durchgestanden hatten? Als ich ins freie Tat war ich erstmal geblendet. Von außen sah man, dass alle Fenster getönt waren. Aber im Moment empfand ich das grelle Licht nicht als schön. Es stach in den Augen. Ich setzte mich auf eine Bank im Schatten eines Baumes. Wenn alles gut lief, würden wir hier die nächsten Jahre verbringen. Wir würden unseren Abschluss machen und uns irgendeinen Platz auf der Welt suchen. Ich zog meine Beine an und umarmte sie. Es würde irgendwie alles gut werden. Hoffentlich. Es dauerte nicht mehr lange als mir langweilig wurde und ich mir albern vorkam. Hier rumsitzen und schmollen brachte auch nichts. Mein Magen hatte sich wieder beruhigt, was machte ich also noch hier? Ich ging wieder ins Gebäude. Als ich zurück auf unser Zimmer wollte, traf ich Newt, der am Ende des Glastunnels auf mich wartete. „Sollen wir uns für den Dienst eintragen?", fragte er prompt und ich nickte. Wir kehrten um und liefen in Richtung Sekretariat. „Ich kann dich verstehen.", sagte Newt in die unangenehme Stille hinein. „Es ist Emelie-die wird sich schon wieder einkriegen." Ich nickte wieder, wusste nicht was ich sagen sollte. „Meinst du, Emelie hat Recht? Ich meine, das mit arbor." Newt zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Aber sie zieht zu voreilige Schlüsse. Hoffentlich macht sie keine Dummheiten." Wir schwiegen den Rest des Weges. Im Sekretariat angekommen, erklärte uns die Sekretärin, dass die Zettel zum einschreiben an der Tür hingen. Die Dienste waren in Innen- und Außendienst eingeteilt. Bevor ich auch nur einen Blick darauf werfen konnte, zeigte sich Newt begeistert. „Die suchen da Küchenhilfen, in der fünften und sechsten Stunde. Wir müssen halt schauen, wann wir Freistunden haben. Ich nickte begeistert. Notfalls konnten wir ja die Kurse wechseln. Die Sekretärin erklärte uns, dass wir am besten einfach nach der Mittagspause an der Küche anklopfen sollten. Wir nickten und verabschiedeten uns wieder.

Ich hatte nicht viel zu tun. Newt war auf sein Zimmer verschwunden, und ich hatte keine Ahnung wo sich die anderen herumtrieben. Lei war dann auch irgendwann aufgestanden und nun war ich allein. Ich hatte die Zeit genutzt mein Bett zu beziehen und meine Habseligkeiten im Zimmer zu verteilen. Ich legte die hölzerne Rose auf meinen Nachttisch und lud mein Handy auf. Eigentlich brauchte ich es gar nicht, aber ich tat es trotzdem. Alte Fotos, Erinnerungen. Ich wollte nicht dass sie verloren gingen. Ich war bis zum Mittagessen allein, aber das war auch gut so. Ich vermisste meine Bücher. Wann hatte ich das letzte Mal Zeit nur für mich gehabt? Ich legte Millas Sachen auf ihr Bett und sortierte meine Schmutzwäsche nach dreckig, aktzeptabel und fast frisch. Irgendwann wurde mir langweilig und ich beschloss, die anderen suchen zu gehen. Ich hatte meine Gedanken sortiert und fühlte mich besser. Für den Fall schnappte ich mir Leis Sonnenbrille und fing an, die Schule zu erkunden. Ich fühlte mich seltsam, allein durch die leeren Gänge zu laufen, während alle anderen Unterricht hatten. Als ich nach draußen sah, entdeckte ich schließlich meine Freunde, die es sich im Schulgarten gemütlich gemacht hatten. Ich fasste mir ein Herz und stieß zu ihnen. „Hey.", murmelte ich schnell und setzte mich auf die Bank neben Milla. Jo musterte mich kurz mit einem undefinierbaren Blick, dann fing er weiter an irgendetwas über Tengame zu erzählen. Er war so schön und seine Stimme so angenehm, ich hätte ihm den ganzen Tag zuhören können. Emelie ignorierte mich geflissentlich. Ich schluckte und sah zu Milla, die bei meinem Anblick einen Mundwinkel hob. „Ich habe eine kleine Schülerbibliothek gefunden.", raunte sie mir zu und das drücken in meinem Bauch verschwand. Sie warf mir nichts vor. „Zeigst du sie mir später?", fragte ich sie und sie nickte. Das war schon mal gut. Plötzlich richteten sich alle Blicke auf Emelie und Jo hörte auf zu reden. „Was?" entnervt zog Emelie die Nase kraus. „Ich werde mich nicht entschuldigen, wenn ihr das erwartet." Milla seufzte. „Ist schon okay.", brummte ich. Ich hatte keine Lust auf neuen Streit, wir waren hier schließlich nicht im Kindergarten. „Komm, ich zeig dir die Bibliothek." Milla zog mich mit sich. Ich wehrte mich nicht. Ich wollte dieser seltsamen Situation entfliehen. Sie zog mich mit sich und wir verschwanden im Gebäude. „Emelie ist in letzter Zeit echt unmöglich. Aber in einem Punkt hat sie Recht: Du läufst immer weg." Ich biss mir auf die Unterlippe. Warum mussten alle mir das auf die Nase binden? „Wir sind alle weggelaufen.", konterte ich und steckte einen Missbilligenden Blick von Milla ein. „Das gilt nicht.", sagte sie schlicht. „Und warum nicht?" „Rose, bitte lass uns nicht auch noch streiten. Wir sind wegen etwas anderen hier." „Wie wirst du mit all dem fertig? Hast du keine Albträume?", wollte ich schließlich wissen. Manchmal hatte ich das Gefühl, ihr würde das alles gar nichts ausmachen. „Hast du welche?", kam es prompt als Gegenantwort. „Was?" „Alpträume." „Ja.", erwiderte ich leise. Sie drückte meine Hand. „Ich glaube, ich versuche mich abzulenken. Lass uns die Bibliothek plündern." Ich nickte.

Und das taten wir.

Die Magie der RoseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt