16 Sechzehn

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Erschrocken wich ich zurück. Emelie schien nichts bemerkt zu haben. Was sollte das jetzt wieder bedeuten? War er so wie Milla? Aber es mochte mich doch, oder? Er lachte mit mir. Er war doch nicht gefühllos. Ich schüttelte den Kopf. Schon wieder etwas, worüber nach nachdenken musste. „Was ist?", fragte Jo mich. „Nichts." Er schaute mich enttäuscht an. Verlangte er etwa von mir, dass ich ihn alles erzählte? Und das jetzt auch noch, nachdem er sich mit Newt gekloppt hatte und tausend Geheimnisse mit sich herumtrug? Ich blickte ihn vorwurfsvoll an. Er schien zu verstehen und schwieg. „Was willst du?", fragte Emelie sichtlich gereizt. „Ich wollte nur sagen, dass...dass ich nicht sagen kann was Milla zugestoßen ist. Aber es geht ihr gut. Er schaute zu Boden. „Wenn ich es könnte, würde ich es euch sagen, ehrlich." Sein Blick wanderte wieder zu Emelie. Warum musste ich immer alle meine Sorgen vergessen, wenn ich in diese Augen schaute? Warum konnte ich nicht einfach mal Nein sagen, und begreifen, dass er irgendwas in Schilde führte? Wenn ich Zeit mit ihm verbrachte, redeten wir meistens nicht über ernste Dinge. Und er schien sich auch nur bei den ernsten Dingen zu verschließen. Einerseits war ich wütend, dass er uns nichts verriet, andererseits war ich mir fast sicher, dass er gute Gründe hatte. Jo war ein guter Mensch. Und auch wenn er nie etwas verriet, ich wusste, dass er es mit mir ernst meinte. Ich hatte seinen Herzschlag gespürt. Und daran hielt ich fest. Ich würde auf mein Herz und mein Bauchgefühl hören. Wenn ich die fehlende Seite fand, musste ich ihn sowieso nicht mehr fragen. Emelie musterte ihn ganz genau. „Und du bist dir ganz sicher, dass du uns nichts sagen kannst?" Er schaute sie traurig an. „Nein." „Also schön. Aber glaub nicht, dass ich nicht hinter dein Geheimnis komme." Er lächelte. „Tu es besser nicht." Und dann ging er und verschwand in der Menge. Es dauerte nicht mehr lange, und es klingelte. Alle Schüler strömten zurück ins Gebäude, nur Emelie und ich blieben stehen. „Wenigstens lügt er nicht.", sagte ich. „Ja.", seufzte Emelie. Mir fiel Newt wieder ein. Was tat er die ganze Zeit? Wie zu Bestätigung schossen die Obstbäume in der Ferne in die Höhe. Genau in der Richtung, in die Newt verschwunden war. „Meinst du, wir sollten nach Newt sehen?" „Nein.", sagte Emelie bestimmt. „Er ist eine Naturgewalt für sich, ich glaube, er muss sich austoben." „Du hast Recht.", bestätigte ich. „Lass uns zurückgehen und ihn wegen Bauchschmerzen krankmelden." „Ja.", seufzte sie. Und dann verließen wir den menschenleeren Schulhof, als wäre nichts gewesen.

Nach dem Unterricht ging ich endlich in die Bibliothek. Soley begrüßte mich mit einem freundlichen Lächeln. „Lange nicht mehr hier gewesen, was?" „Ja.", keuchte ich unter dem Berg von Büchern, die ich zurückbringen musste. Mit einem Schnaufen stellte ich sie auf dem Schreibtisch von Soley ab. Sie fing an, sie abzustempeln. „Soley?" „Hm?" Ich zog das grüne Buch aus dem Stapel. „Das Buch würde ich gerne verlängern. Es gibt nur ein Problem... In dem Buch fehlt eine Seite. Meinst du, du kriegst das wieder hin?" Ich schlug die besagte Seite auf und Soley nahm mir das Buch aus der Hand. Sie betrachtete es eine Weile. „Ich fürchte, ich kann da nichts machen." „Warum?" Die Verzweiflung in meiner Stimme war unüberhörbar. „Wenn die Seite durch Wasser unleserlich geworden wäre, dann könnte ich es reparieren. Aber eine fehlende Seite..." „Bitte versuch es trotzdem." Ich sah sie bittend an. „Na schön. Aber stell dich darauf ein, dass es nicht funktioniert." Ich nickte eifrig. „Ok.", erwiderte sie. Sie schloss die Augen, und ich starrte auf das Buch. Ein paar Eselsohren verschwanden, die Randnotiz verschwand, doch mehr passierte nicht.

Doch dann, ganz langsam begann eine Seite aus dem Buch zu wachsen. „Es funktioniert!" Mein Blick fiel auf Soley. Schweißperlen hatten sich auf ihrer Stirn gebildet, und sie schnaufte hörbar. Hoffentlich verausgabte sie sich nicht zu sehr. Als ich wieder auf das Buch schaute, war die Seit fertig gewachsen. Doch zu meiner Enttäuschung war sie leer, außer der Seitenzahl, die sich klar und deutlich hervorhob, wie eine Fliege auf einem sauberen Tisch. „Es hat doch nicht funktioniert." Enttäuscht sah ich in Soleys bleiches Gesicht. Sie hatte die Augen wieder geöffnet. „Aber danke, dass du es versucht hast. Geht es dir gut?" „Es geht gleich wieder.", flüsterte sie. Sie atmete tief durch und langsam kam die Farbe in ihr Gesicht zurück. „Ich hätte nicht gedacht, dass das so anstrengend ist." „Soll ich dir einen Kaffee machen?" Besorgt musterte ich sie. Ich fühlte mich schuldig. „Das wäre lieb, danke." Soley liebte Kaffee. Es gab nur selten Momente, wo ich sie ohne eine Tasse Kaffee auf dem Schreibtisch gesehen hatte. Ich durchquerte die Bibliothek. Auf der anderen Seite befand sich ein Tisch mit einer Kaffeemaschine und einen Trinkwasserspender. Ich machte ihr einen Kaffee und kehrte zu Soley zurück. „Hier. Schwarz, wie du ihn am liebsten magst." „Danke." Ich stellte ihn auf ihren Tisch. „Es tut mir leid, dass ich dir nicht helfen konnte." „Ich versuchte, nicht zu enttäuscht zu wirken. „Schon okay. Gibt es hier noch andere Bücher über et specculum?" „Et spät- was?" „Et specculum. Darüber war die fehlende Seite." „Ich schaue mal nach." Sie holte den großen Hefter hervor, in dem alle Bücher der Bibliothek aufgelistet waren. Seit ich hier war hatte ich nichts Elektronisches gesehen, außer das Licht und die Klingel die die Pausen ankündigte. „Was ist dieses Dings, was du suchst? Interessiert es dich?", wollte sie wissen, während sie sich durch die Seiten blätterte. „Ich weiß es nicht, deswegen suche ich ja." Sie schlug den Hefter so laut zu, dass ein Leser in einem der Sessel zusammenzuckte. „Tut mir leid. Du kennst mich ja. Ich habe alles systematisch durchsucht, aber nichts gefunden." Ich seufzte. Dabei war ich mir so sicher gewesen, dass Soley die Seite wiederherstellen konnte. Nachdem Soleys das Buch verlängert hatte, kuschelte ich mich in einen der Sessel und las das Buch zu Ende. Ich fand nichts Interessantes, was mich noch mehr entmutigte. Ich brachte das dann doch Buch zurück. Als es Zeit für das Abendessen wurde, verließ ich missmutig die Bibliothek. Das Abendessen nahmen wir schweigend ein. Solange Jo an unserem Tisch saß, ließ sich Newt nicht zu uns bewegen. Erst nach dem Jo fertig war und die Cafeteria verlassen hatte, kam er von seinem Tisch am Fenster zu uns, wo er ganz alleine gegessen hatte. Mit mir redete er auch nicht mehr viel, weil ich Zeit mit Jo verbracht hatte. Mein Magen fühlte sich an, als wäre er mit Steine gefüllt, als er auch noch begann, mir ständig wütende Blicke zuzuwerfen. Ich hielt das nicht mehr aus und ging. Emelie warf mir einen Es-tut-mir-Leid Blick zu und blieb. Ich nahm ihr das nicht übel. Sie war nun die einzige, die Newt noch vertraute, und er brauchte dringend jemanden. Ich ging früher ins Bett als geplant und schlief auch schnell.

Die Magie der RoseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt