9 Neun

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Seit dem Tag an dem ich umgekippt war, hatte sich Jo irgendwie verändert. Er beteiligte sich an Gesprächen, tat seine Meinung kund. Er bewegte sich sogar anders. In seiner Stimme, in seinem Gesten und Gesichtsausdrücken, in allem war er lebendiger. Er existierte nicht nur und warf ab und zu einen verstohlenen Blick auf mich, nein, er war einfach da. Ich spürte seine Präsens, jedes Mal wenn ich mich in seinen Augen verlor, jedes Mal wenn er mit mir sprach. Er faszinierte mich.

In den nächsten Tagen wurde ich von Alpträumen heimgesucht, wie schon lange nicht mehr. Ich verbrachte die meiste Zeit der Nacht Kakao trinkend in der kleinen Küche, die sich etwas weiter im Gang befand. Eigentlich tat ich dies nicht mehr so oft, doch in letzter Zeit jede Nacht. Die Küche war für Schüler gedacht, die außerhalb der geregelten Essenszeiten Hunger bekamen. Wie ich.

Schweißüberströmt wickelte ich mich aus meiner viel zu warmen Bettdecke. Ich öffnete das Fenster und ließ die einigermaßen kühle Nachtluft hinein. Die kühle Brise kühlte meine feuchte Stirn und lockerte den Knoten in meinem Innern etwas. Ich schlüpfte leise in meine dünnen Sommersocken und verließ auf leisen Sohlen das Zimmer. Im Flur war es angenehm kühl und still. Ein starker Kontrast zum den Dauerquasselnden Schülern tagsüber. Dieser ständige Lärm ging mir gewaltig auf den Keks. Wie viel Uhr es wohl war? Ich hatte überhaupt kein Zeitgefühl. In der Küche angekommen, holte ich die Milch aus dem Kühlschrank und goss sie in mein Glas, was schon mit Kakao gefüllt war. Für warmen Kakao war es einfach viel zu heiß. In meinen Alpträumen stürzte ich ständig aus Klippen oder Fenstern. Ich ertrank in eisiger Tiefe des Meeres oder wurde vergiftet. Wenn es nach meinen Träumen ginge, wäre ich schon längst Mausetot. Die Stille verschluckte meine lauten Gedanken. Eigentlich mochte ich die Stille, doch jetzt hielt ich es nicht mehr aus. Ich vermisste etwas Musik. Hier auf dieser Schule gab es keine einzige Musikbox. Nicht mal ein Radio war uns gegönnt. Oma hatte immer gesagt „Wer den Beat im Herzen spürt, der weiß was Musik ist." Ich vermisste sie so sehr. Ich vermisste ihr Lachen, ihre Sprüche und ihr leckeres Brot. Es war als hätte jemand ein Stück aus meinen Herzen herausgerissen und es bei ihr zurückgelassen. Wie eine Rose mit fehlenden Blütenblättern. Meine Hand tastete nach dem kühlen Gegenstand auf meinen Herzen. Vielleicht bietet sich ja eines Tages die Möglichkeit...Nein! So etwas würde nie passieren. Mein Leben war hier. Ich gehörte hier her, redete ich mir ein. Alles war gut so wie es ist. Ich durfte Jo nicht lieben. Ich musste hierbleiben. Lieben war ein ziemlich krasses Wort dafür, dass ich ihn gar nicht richtig kannte. Gut so. Ich kippte den letzten Satz Kakao in einem Zug runter und stellte das Glas in die leere Spülmaschine zu der anderen, noch warmen Tasse. Warte...was? Könnte es sein, dass ich nicht die einzige war, die nicht schlafen konnte? Zehn Herzschläge später setze ich mich wieder in Bewegung und schloss die Spülmaschine wieder. Ich setzte mich auf die graue Arbeitsplatte und legte mein Kinn auf meine angezogenen Knie. Ich umarmte meine Beine und saß eine gefühlte Ewigkeit einfach nur da, und versuchte einfach nur nicht auseinanderzufallen wie ein bröckliger Keks.

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Ich leerte die Espressotasse in zwei Zügen. Das Zeug war so eklig, doch es half mir, nicht im stehen einzuschlafen. Meine Augenringe störten mich längst nicht mehr, und auch die anderen schienen sich daran gewöhnt zu haben. Dachte ich. Was war nur mit mir los? Die Sache mit Jo, Die Alpträume, und Emelies ständig besorgter Blick. Während mein Kopf immer weiter nach unten wanderte und meine Augen immer wieder zufielen, bemerkte ich gar nicht, dass mich alle anstarrten. „Erde an Rosalie Mai? Huhu!" Newt wedelte vor meinem Gesicht herum.

Ich schreckte zusammen. „Oh Was?" Er verdrehte genervt die Augen. „Kommst du heute mit zur Fleur? Oder verschwindest du wieder in die Bibliothek um zu lesen?" „Ich weiß nicht...", brummte ich lustlos. Damit die anderen keinen Verdacht hegten, dass mich Albträume plagten, holte ich in den gemütlichen Sesseln der Bibliothek immer meinen Schlaf nach. „Glaub lesen.", nuschelte ich zwischen zwei Bissen Toastbrot. Milla seufzte. „Schade." „Ich erwiderte nichts und starrte einfach nur konzentriert auf mein Toast, und nicht einzunicken. Wie in Trance prägte ich mir jeden einzelnen Krümel ein. Ich passte eine Sekunde nicht auf und schon waren meine Augen wieder zu. Verdammt! Der Schultag kam mir so lange vor wie der Zerfall von Uran 215. Mit letzten Kräften schlurfe ich in die Bibliothek und pennte sofort ein, als mein Hintern den durchgescheuerten roten Samt berührte.

Die Magie der RoseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt