29.0 Neunundzwanzig (Teil 1)

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Wir gingen zurück. Emelie stürmte schon auf mich zu, bevor ich überhaupt ihren Haarschopf sehen konnte. „Was hast du nur gemacht? Du kannst es immer noch in Ordnung bringen. Wo warst du überhaupt?" „Halt mal die Luft an.", sagte ich. „Ich werde nichts dergleichen tun. Ich habe meine Entscheidung getroffen." „Aber es macht dich nicht glücklich." „Das ist mir egal. Ich bezweifle dass sie glücklich ist, wenn sie von all dem erfährt und sich vor Gorn verstecken muss." „Du hättest ihr die Wahl lassen sollen." Vielleicht hätte ich das. Aber jetzt war es zu spät. „Wenn sie ich gewesen wäre, hätte sie das gleiche für mich getan." „Du gehst da jetzt rein." Emelie schnappte sich meine Hand und wollte mich mit sich ziehen: Ich riss meine Hand weg. „Nein!" „Jetzt lass sie wenn sie nicht will. Sie hat ihre Gründe.", schaltete sich Milla dazwischen. „Na schön. Aber wenn du traurig bist-du bist selber schuld!" Fassungslos schaute ich Emelie in die Augen. Was war nur in sie gefahren? „Ohne ihre Gabe ist sie sowieso nutzlos. Das hast du echt toll gemacht.", giftete Grace. „Du bist so ein Angsthase!" Ich zog den Kopf ein. Titus schob Grace vor sich her. „Lass uns jetzt gehen." Er seufzte. „Ayaka wird uns die Köpfte abreißen und einzeln an die Tiger verfüttern." „Daran ist nur dieses Miststück schuld!" „Grace..." „Dein Grace kannst du dir sonst wohin stecken!" Titus seufzte. „Du weißt doch, dass ich dich mit nur einem Wort..." „Ja, ja schon kapiert." Titus kramte in seine Tasche. „Ich schätze, ihr wisst, was ein Tengam ist?" „Ja. Wohin gehen wir?", wollte Newt wissen, der sonst gar nichts gesagt hatte. „Ihr werdet schon sehen." Er presste die eine Halbkugel in seine Handfläche. „Seid ihr bereit?" Grace verdrehte die Augen und legte ihre Hand auf seine Schulter. Milla tat dasselbe nur ohne Augenverdrehen und Newt nahm sie an die Hand. Dann folgten Emelie, Jo und ich. Und es ging los. Ehe ich mich versah, standen wir schon auf einem Hügel, der mit Gras bedeckt war. Eigentlich konnte man den Hügel als Berg bezeichnen. Felsen ragten aus der Erde und ein stürmischer Wind zerzauste meine Haare. „Wo sind wir hier?", fragte Milla. Titus lächelte. „Zuhause." Es war schon fast dunkel, die Sonne hatte sich schon fast verabschiedet. „Und wo ist das? „In Schottland." „Aha.", machte sie. Ich wusste nicht, ob Schottland ihr etwas sagte. Aber ich war zu fasziniert von der schönen Landschaft als noch meinen Senf dazuzugeben. Und ich hatte andere Sorgen. Hoffentlich war Oma jetzt nicht noch mehr verwirrt als zuvor. Hatte das, was ich da fabriziert hatte, überhaupt funktioniert? „Kommt mit." Titus machte eine Handbewegung, dass wir ihm folgen sollten. Wir liefen den Hügel hinauf, bis zu einem Felsen, der aussah wie eine Zipfelmütze. Er war extrem glatt und glänzend. Grace berührte den Felsen und plötzlich war sie weg. „Also, ...", fing Titus an. „Kommt mal näher, dann seht ihr es selbst." Als ich um den Felsen herum lief, traute ich meinen Augen kaum. Wenn man genau hinsah, konnte man eine kleine Miniaturstadt sehen, die auf dem bemoosten Felsen wuchs. Die Häuser standen waagrecht zur Seite, wie Pilze, die sich entschieden hatten, in eine andere Richtung zu wachsen. „Wenn ihr dieses Hochhaus berührt, schrumpft ihr auf zwei Millimeter. Wir sehen uns dann dort." Er nahm den Kühlschrank von seinem Rücken und umarmte ihn. Er berührte das Haus, was er uns gezeigt hatte und war weg. „Das ist voll cool!", quietschte Emelie aufgeregt. Sie flog nach vorne und drückte auf das Hochhaus. Innerhalb von Sekundenbruchteilen schrumpfte sie und war verschwunden. „Ich geh als nächstes.", sagte Newt und tat dasselbe wie Emelie. Ich war als nächstes dran. Ich legte meinen Zeigefinger auf das Hochhaus. Ich konnte unter meinen Fingerkuppen eine Art Kuppel ertasten. Plötzlich wurde ich kleiner. Meine Freunde wurden zu Riesen und dann kippte ich-und fiel. Ich fiel durch ein Loch einer Glaskuppel. Für einen Moment wusste ich nicht wo oben und unten war, doch dann sah ich das Netz, indem ich gleich landen würde.

Mein Rucksack drückte sich unangenehm gegen meinen Rücken, als ich auf das Netz aufprallte. Der Boden, das Netz, die Wände-alles war in einem blendenden Weiß gehalten. Nur kurz vor der Decke verlief ein breiter türkiser Streifen, der Richtung Boden immer mehr verblasste. Die Decke war Eine gläserne Halbkugel, die ein Loch in der Mitte hatte. Plötzlich wurde es dunkel. Etwas hatte sich durch die Glaskuppel gelegt. Mein Herz pocht schnell, als ich meinen Rucksack auszog und mit ihm zum Rand des Netzes kletterte. Keine Sekunde zu früh. Eine Gestalt fiel aus dem Loch der Kuppel und es wurde wieder hell. Das Netz bremste Millas Sturz ab und sie landete dort, wo ich zuvor gelegen hatte. „Das ist voll cool!", rief Milla als sie auf mich zu krabbelte. Wir sprangen von Netz herunter. „Finde ich auch." Ich sah die anderen an einer großen Tür auf uns warten. Es dauerte nicht lange bis wir komplett waren. Wir gingen durch die Tür und landeten in einem Flur mit Parkettboden und runden Fenstern. „Kommt hier lang." Titus führte uns ein paar Flure entlang. „Wir gehen zu Akaya. Sie wird euch helfen.", erklärte er uns. Schließlich hielten wir vor einer Tür an. Sie war mit der Nummer 1013 nummeriert. „Wartet kurz hier.", flüsterte er. Dann klopfte er an und wurde kurzerhand reingebeten. Ich war neugierig, wer Akaya war und was Titus von ihr wollte, doch durch die schneeweiße Tür drangen keine Geräusche. Nach einer gefühlten Ewigkeit öffnete sich endlich die Tür. „Ihr könnt reinkommen.",, sagte eine summende Frauenstimme. Wir traten ein. Eine asiatische Frau mir langen schwarzen Haaren saß an einem weißen Schreibtisch. Sie trug eine schwarze Maske, die nur Mund, Nase und Augen aussparte. Außer dem Schreibtisch und zwei ebenfalls weißen Stühlen war der Raum leer. Als ich aus dem Fenster blickte, war ich erstmal verwirrt. Der Himmel war zweigeteilt. Ich konnte in der Ferne grasigen Boden erkennen und auf der anderen Seite funkelten die Sterne. Fasziniert betrachtete ich das runde Fenster für ein paar Sekunden. Titus saß auf einen der weißen Stühle. „So, so. Ihr seid also von der Supay geflüchtet." Sie musterte uns interessiert. Ich konnte nicht erklären, was es war, aber ihre Stimme, ihre geschmeidigen Bewegungen, ihr Geruch und ihr Blick nahm eine vollkommen ein. Die Atmosphäre lullte mich ein und ich konnte nicht anders, als sie die ganze Zeit anzustarren. Den anderen schien es ähnlich zu gehen. Irgendwas irritierte mich an ihrem Blick. Als ich genau hinschaute, wusste ich auch warum. Sie hatte zwei verschiedene Augenfarben. Das rechte war blau, das linke sah aus wie flüssige Schokolade. „Und ihr habt arbor. Ihr wisst, was das bedeutet, oder?" „Ja.", sagte ich. „Wir müssen es zurückbringen." Sie schüttelte den Kopf und lächelte breit, ihre Zähne waren so weiß, dass ich mich von ihnen geblendet fühlte. „Wir haben endlich etwas gegen die Supay in der Hand. Gorn arbor zu entwenden war sicherlich kein leichtes Unterfangen. Titus wird euch im Internat einweisen. Wärt ihr so freundlich und händigt mir ihn aus?" Sie strecke uns gewinnend die Hand entgegen. Ich zögerte nur kurz. Endlich konnte ich die Verantwortung jemand anderen geben. Ich griff in meine Hosentasche und legte arbor auf ihre schneeweiße Handfläche. Sie schnappte zu wie ein Krokodilmaul und Akaya legte ihre Hände auf den Tisch. „In euch könnte Potenzial stecken. Auf Wiedersehen." Milla klappte die Kinnlade hinunter. Akaya machte eine wegwerfende Handbewegung. „Sie wollen sich nicht unsere Geschichte anhören? Na, sie müssten doch wissen was das für die Welt bedeutet, wenn arbor nicht auf seinen Platz ruht." Sie schnaubte. „Das sind nur Ammenmärchen, Mädchen. Ihr habt davon keine Ahnung. Verlasst bitte das Zimmer." Emelie flog einen Meter in die Höhe und beugte sich drohend über Akaya. „Sie..." „Bitte geht jetzt." Ihre sahneweiche Stimme sorgte dafür, dass meine Füße sich ganz allein zum Ausgang bewegten. Ich wollte es für sie tun, damit sie zufrieden war. Damit ihre wunderschöne Stimme nicht kratzig wurde. Doch meine Gabe schaltete sich ein und ich blickte verdutzt die anderen an, die hinauswankten. Mir blieb nichts anderes übrig als ihnen zu folgen. Emelie kam zurück auf den Boden und erst als wir wieder vor der Tür standen, wurde mir bewusst, dass wir verzaubert worden waren. Titus seufzte. „Ich hätte euch warnen sollen." „Was ist ihre Gabe?", wollte Milla wissen und massierte sich die Schläfen. „Schönheit. Wenn sie die Maske nicht tragen würde... ihr hättet sie geküsst." Newt verzog angewidert das Gesicht und legte einen Arm um Milla Er küsste ihr auf die Wange. Milla lächelte und Newt schenkte ihr einen Blick, der selbst Trockeneis zum Schmelzen gebracht hätte. Kurz bevor sie sich küssen konnten, sprang Grace dazwischen. „Genug, ihr Turteltäubchen!" Sie scheuchte uns nach links, bis ein Treppenhaus vor uns auftauchte. Ich wagte einen Blick hinunter und musste zu meinem Entsetzen feststellen, dass es ganz schön in die Tiefe ging. „Können wir nicht einen Aufzug nehmen?", stöhnte Newt. „Es gibt keinen Aufzug,", erklärte Grace trocken. „Warum nicht?" „Damit die Büromenschen in Bewegung bleiben. Und jetzt kommt. Zehn Stockwerke werdet ihr wohl überleben." „Zehn?" Newts Augen wurden so groß wie Unterteller. Ich versuchte ihr nicht die Genugtuung zu geben, mich darüber aufzuregen, doch ich spürte förmlich wie mir das Blut aus dem Gesicht wich. Ich war todmüde und wollte einfach nur noch schlafen, nicht mehr über Oma oder sonst wen nachdenken. Zwölf Tage Fußmarsch reichte allemal. Schweigend liefen wir die breite Wendeltreppe hinunter. Am Anfang ging es noch, doch irgendwann knickten meine Beine und ich klammerte mich an das Geländer. Ich unterdrückte ein aufstöhnen. Ich fühlte mich so machtlos. Ich musste Oma die Erinnerungen nehmen und war gezwungen, vor Gorn zu flüchten. Ich konnte einfach nicht mehr. Als Jo eine Hand um meine Taille legte, zwang ich meine Beine dazu, weiterzulaufen. Und so ging es weiter, Stufe für Stufe. Ich war unendlich erleichtert, als ich endlich wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Wir liefen durch dunkle, verlassene Straßen, die alle in einem Art Spinnennetz angeordnet waren. In der Mitte befand sich das berüchtigte Hochhaus. „Wie heißt die Stadt eigentlich?", fragte Milla. Interessiert hob ich den Kopf. „Inti." Titus' Stimme hallte klar und laut durch die Gassen. „So heißt der Sonnengott der Inkas. Wenn die Sonne aufgeht, wisst ihr, wovon ich spreche." Titus blieb vor einem großen viktorianisch aussehenden Gebäude stehen. „Wir sind da."

Wir traten durch eine große Eingangstür ein. Grace drückte auf einen Lichtschalter. Kronleuchter fingen an zu leuchten und verbreiteten schummeriges Licht. Vor uns lag ein Raum, so groß wie ein Ballsaal. In einer Nische entdeckte ich eine Art Rezeption, die jedoch unbesetzt war. Eine große runde Wanduhr zeigte halb zwei Uhr nachts. Titus räusperte sich und erklärte uns mit leiser Stimme, dass wir heute keinen mehr erreichen würden und wir wahrscheinlich auf unseren Isomatten in Grace und Titus Zimmer schlafen müssten. „Wenn Mr. Clark mal wieder vergessen hat, die Turnhalle abzuschließen könnt ihr von dort Matten nehmen und wenn ihr wollt, auch dort schlafen." „Mister...?", hakte Milla nach. „Hier wird auf Englisch unterrichtet. Wir sind in Schottland, schon vergessen?" „Und ihr könnt deutsch, weil..." „Wir deutsche sind." „Und was ist mir Akaya?", wollte Emelie wissen und ließ sich auf dem Rücken durch die Luft treiben. „Soweit ich weiß, beherrscht sie über zehn Sprachen." Jo hob überrascht eine Augenbraue. „Ist sie so etwas wie die Bürgermeisterin von...Inti?", fragte ich. Das Wort Inti hörte sich an wie ein Nieser. „Ja, sozusagen." Er zuckte mit den Schultern. „Nichts für ungut, aber können wir die Fragestunde auf morgen verschieben? Ich bin verdammt müde." „Okay." Emelie drehte sich einmal und landete sanft auf dem Boden. Sie gähnte. „Ich auch." Grace rümpfte die Nase. „Ihr stinkt wie ein Abflussrohr. Ich lasse euch nicht in mein Zimmer. Titus blickte sie vorwurfsvoll an. „Sie können ja schlecht auf dem Klo schlafen." Grace drehte sich zu mir um. „Selbst das Klo riecht besser als du." Ich war zu müde um mir einen Konterspruch auszudenken. Genervt verdrehte ich die Augen. Wenn sie zwölf Tage nicht geduscht hätte, würde sie genauso riechen. Wir bogen nach rechts ab und nach noch einer Biegung sah ich Türen, die mit dem Schildchen „Umkleiden Mädchen-Jungen" versehen waren. Titus rüttelte an der Tür der Jungenumkleiden, die Tatsächlich aufging. Etwas unschlüssig folgten wir ihm. Sofort lullte mich der eklige Schweißgeruch ein. Zum Glück waren wir schnell in der Halle. Der grüne Boden mit den bunten Linien weckte das Gefühl der Vertrautheit in mir. Titus ging die Klappen systematisch ab und prüfte, ob sie offen waren. Wir halfen ihm und mussten feststellen, dass alle zu waren. Titus klatschte sich gegen die Stirn. „Wartet hier." Titus verschwand kurz in einem der Räume, in denen sich die Sportlehrer hineinsetzen konnten und die Schüler beobachteten. Ein paar Sekunden später kam er hinaus und wedelte triumphieren mit einem Schlüsselbund. Wir trugen fünf Matten in die eine Ecke der Turnhalle und die zwei verabschiedeten sich von uns. Beziehungsweise Grace verschwand ohne ein Wort, während Titus meinte: „Ich wecke euch rechtzeitig, damit ihr nicht von einer Schulklasse überrascht werdet. Gute Nacht." Ein kollektives „Gute Nacht ging durch die Runde und Titus verschwand in der Jungenumkleide. Wir machten uns ein Lager zurecht. Da es mittlerweile schon Routine war, ging alles sehr schnell. Ehe ich es mir versah lag ich in meinem Schlafsack und dem T-Shirt, das immer noch leicht nach Wolfsabber müffelte. Es war etwas unheimlich eng zusammengedrängt in einer großen Halle zu liegen. Mein Rücken knackte dankbar. Diese Matten waren um einiges besser als die Isomatten, die gefühlt so dünn wie ein Blatt waren. Ich ließ mir nochmal den heutigen Tag durch den Kopf gehen. Es war so viel passiert, das hätte für ein ganzes Jahr gereicht. Ich dachte an Oma. Ganz allein in einem leeren Haus. Mit einem leeren Zimmer. In Sicherheit. Ich dachte daran, wie sie mir das Medaillon gegeben hatte. Damit hatte alles angefangen. Sie hatte an mich geglaubt. Wenn sie gewusst hätte, was ich alles getan hatte, würde sie das immer noch tun? Würde sie mich immer noch wertschätzen?

War ich feige?

Die Magie der RoseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt