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Samstagnachmittag. Ich auf meinem Bett und das verzweifelte Gefühl in meiner Brust, das mir klarmacht, dass morgen der letzte freie Tag ist. Dieses Gefühl, wenn man weiß, dass einen übermorgen wieder Schule erwartet, ist so mies, dass ich mich nur unter meiner Bettdecke verkriechen will. Ich sitze hier und versuche zu lernen. Natürlich würde ich liebend gerne etwas anderes machen, aber ich kann die Schule nicht vollkommen vernachlässigen, wenn ich einen ordentlichen Abschluss haben will und damit meine Eltern wenigstens ein bisschen stolz auf mich machen will.

Zwar bin ich mir nicht im klaren darüber, ob meine Eltern mich je wieder akzeptieren werden, aber ein Versuch ist es dennoch wert. Meine Mutter wird da vielleicht noch ein bisschen mehr Verständnis zeigen, aber mein Vater wird mich definitiv hassen. Es macht mich traurig, dass die Beziehung zu meinem Vater wahrscheinlich nie mehr so sein wird, wie sie einmal war.

Seufzend vergrabe ich meinen Kopf im Kissen. Das bringt doch alles nichts. Wie soll ich etwas in von dem Lernstoff in meinen Kopf bekommen, wenn er doch schon voll von anderen Gedanken ist, die sich ein Spaß daraus machen mich durcheinander zu bringen und mir Kopfschmerzen zu bereiten?

Plötzlich höre ich etwas unter meinem Kopfkissen knistern. Schnell hebe ich es an und entdecke einen Brief. Ach stimmt ja, ich hatte als Jin bei mir war, den Brief von Jihyun unter mein Kopfkissen gepackt und ihn dort wohl vergessen. Innerlich schäme ich mich, dass ich soetwas wichtiges vergessen konnte, aber ich habe immerhin als Ausrede, dass ich in der letzten Woche sehr abgelenkt war.

Vorsichtig hebe ich den Brief an und öffne den schon leicht zerknitterten Umschlag. Zum Vorschein kommt ein einseitig beschriebenes A4-Blatt, mit der etwas krakeligen Schreibschrift meines kleinen Bruders. Ich habe sie schlechter in Erinnerung, aber er war wohl fleißig in der Schule, dann mittlerweile sind kaum mehr Rechtschreibfehler zu finden.

Ich habe den Brief schnell durchgelesen, hauptsächlich schreibt er darüber wie es ihm geht und wie es in der Schule läuft. Aber er fragt auch, wie es mir geht und wann ich zurückkomme, mit der Begründung, dass er mich schrecklich vermisse. Mir kommen leichte Tränen als ich den herzerwärmenden Brief meines Bruders durchlese. Ich vermisse meinen Bruder auch schrecklich und ich weiß jetzt schon, dass ich ihm auf seinen Brief nicht antworten werde können, denn ich bezweifele, dass mein Vater den Brief nicht verbrennen wird, wenn er ihn im Briefkasten findet. Ich könnte Jihyun ‚mit meinen Flausen' ja auch schriftlich anstecken.

Bei diesen Gedanken fließen nur noch mehr Tränen und ich presse voller Verzweiflung den Brief an meine Brust. Ist das nicht komplett unfair, wenn mir der Kontakt zu meinem Bruder verboten wird, bloß weil ich homosexuell bin? Ist das überhaupt legal? Nirgendwo im Gesetz steht, dass man so einen Mist machen darf, aber ich kann mich nicht dagegen wehren. Ich kann doch nicht das Jugendamt einschalten, oder doch? Meine Eltern haben, so lange ich noch nicht volljährig bin, die Gewalt über mich, also können sich mich auch wegschicken, egal wie dämlich die Begründung dafür ist.

Ich kann und werde meine Eltern nie nachvollziehen können, das einzige, was mir übrig bleibt, ist darauf zu warten, dass das Jahr um ist. Ich muss das alles so hinnehmen, wie es ist. Wenn ich versuche was daran zu ändern, wird es nur schlimmer werden und das will ich auf keinen Fall riskieren.

Die Tränen fließen weiterhin aus meinen Augen, kullern wie flüssige Diamanten meine Wangen hinab und platschen entweder auf den Brief oder verfangen sich in meinen Mundwinkeln, an denen ich den salzigen Geschmack schließlich mit meiner Zunge aufnehme. Ich steigere mich hier hinein, aber aufhören kann ich nicht. Warum versteht niemand, dass das alles so ungerecht ist? Womit habe ich verdient, dass meine Eltern mich so behandeln?

Ich lege den Brief zur Seite und kugele mich auf meinem Bett zusammen. Ich habe nicht vor, mich in meinem Leid zu suhlen, aber was soll ich tun? Ich vermisse meinen Bruder sehr, es schmerzt mich, dass ich ihn nicht einfach mal eben in meine Arme schließen darf, ich vermisse die brüderliche Momente, wenn ich mich dazu aufgerafft habe, mit ihm zu spielen oder wenn ich ihm bei irgendwelchen Schulaufgaben helfen muss.

Ich sehne mich danach mit ihm zu schmusen, zu lachen und ihm dabei zuzuschauen, wie er versucht an die obersten Fächer des Süßigkeitenschranks ranzukommen, er aber zu klein ist und mich dann immer mit einem Hundeblick ansgeschaut hat, sodass es immer darauf hinaus gelaufen ist, dass wir die Süßigkeiten zusammen vernascht haben.

Ich vermisse auch meine Eltern. Auch wenn das, was sie tun nicht korrekt ist vermisse ich sie. Genauso wie ich sie liebe, denn sie sind trotz allem meine Eltern. Wenn ich mit meiner Mutter einkaufen war und sie dazu überreden konnte, mal eine besondere Sorte Schokolade zu kaufen oder wenn ich mit meinem Vater Quatsch machen konnte, was zwar selten war, aber dennoch vorgekommen ist. Ich vermisse meine Familie, meine Heimat.

Ich habe es hier nicht schlecht, auf keinen Fall. Mit geht es wunderbar, ich habe Soonmin, die wie eine Freundin und Mutter gleichzeitig für mich ist. Ich habe wunderbare Freunde, nicht nur Taehyung und Jungkook auch Jiwoo, Pina und Kai. Außerdem habe ich Yoongi an meiner Seite und eigentlich müsste ich doch glücklich sein, oder? Dennoch empfinde ich gerade so etwas wie Heimweh, auch wenn mich ‚Zuhause', was schon lange nicht mehr so genannt werden kann, keine offene Arme, mit Ausnahme der von Jin, empfangen werden.

Ich will mir gar nicht ausmalen, wie meine Eltern reagieren würden, wenn ich jetzt einfach so vor ihrer Haustür stehen würde.

Ein Schluchzer der Verzweiflung und Enttäuschung verlässt erneut meine Lippen, diesmal lauter, als er der davor - ich bin so eine Heulsuse - was dazu führt, dass meine Zimmertür leicht geöffnet wird und ich in Yoongi's trauriges Gesicht blicke.

„Kleiner, hey... " Er kommt schnell auf mich zu und richtet mich aus meiner Igelposition auf, nur um mich gleich darauf in die Arme zu schließen. Ich will nicht wissen, wie verheult ich aussehe.

„Was ist los, warum weinst du?" vorsichtig streicht er über meinen Rücken, doch genau diese lieben Berührungen bringen mich dazu noch mehr zu weinen.

Werde ich jemals über die Handlungen und den damit verbundenen Verrat meiner Eltern hinwegkommen?

words: 1039

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