Kapitel 11: Schätzchen.

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Meine Hand zittert. Langsam spüre ich, dass meine Augen nass werden. Ich schließe sie kurz und kann dennoch nicht verhindern, dass eine Träne über meine Wange rollt. Das Gefühl zu weinen ist etwas, was ich komplett vergessen habe. Ich versuche alles zu tun um aufzuhören und dennoch gelingt es mir nicht.

Ich, Shay Mitchell, sitze allein auf einer Drehscheibe an einem Ort, den man nur 'Das gefährliche Viertel' nennt, und weine, als wäre jemand gestorben. Aber ich weine wegen Mystery Boy und dem, was ich gerade gelesen habe.

An meinen Armen habe ich Gänsehaut. Ich wäre sprachlos, wenn mich jetzt jemand auffordern würde zu reden. Mir fehlen komplett die Worte. Ich weiß nicht, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen ist.

Ich hatte mir immer vorgenommen stark zu bleiben. Ich wollte die selbstbewusste und arrogante Rebellin sein. Jemand über den jeder redet, aber den keiner kennt. Ich wollte die Person sein, auf die jeder neidisch ist, weil es so scheint, als hätte ich keine Gefühle, das heißt auch keine Probleme. Und das ist mir gut gelungen. Aber hätte ich mir nicht eingestehen sollen, dass ich nicht gefühlskalt sein muss?

Jeder hat Fehler, jeder hat Probleme. Jeder ist gut so wie er ist und muss sich nicht verstellen, wie ich es getan habe. Warum sollte ich meine Tränen oder meinen Schmerz verbergen?

Eine Träne nach der anderen rollt über mein Gesicht. Ich stecke mein Handy ein, lege mich hin und schließe die Augen.

Mystery Boy ist und bleibt ein besonderer Mensch. Was geht in seinen Kopf vor? Was denkt er? Was für Probleme hat er? Ist er verliebt? Wie geht es ihm gerade?

Nur er persönlich könnte mir diese Frage beantworten. Wie gern ich die Antworten aus seinem Mund hören würde.

Ein lautes Geräusch befreit mich von meinen Gedanken. Ich richte mich auf und sehe ein Motorrad auf mich zufahren. Wenige Meter vor mir bleibt es stehen. Zwei Gestalten, die mich durch ihren Helm anstarren sind die Fahrer. Einer der beiden scheint ein Mann zu sein. Hinter ihm sitzt eine Frau. Die Unbekannte steigt ab und zieht ihren Helm aus.

Mir wird bewusst, wen ich gerade vor mir stehen habe. Sprachlos wandert mein Blick zu dem Mann von dem ich jetzt ebenfalls weiß, wer er ist.

"Shay! Da bist du ja. Toby meinte, dass du das Haus verlassen hast, da haben wir dich gemeinsam gesucht und jetzt anscheinend auch gefunden."

Vanessa Drake. Sie sieht tatsächlich immer noch so wunderschön aus wie früher. Langsam streicht sie sich eine Strähne ihrer blonden, leicht gelockten Haare aus dem Gesicht. Wie ein grüner Edelstein glänzen ihre Augen in der Sonne. Ihre Lippen sind dünn, aber das fällt durch ihren hellroten Lippenstift kaum auf. Ihr Lächeln ist nach wie vor geheimnisvoll und ihre Stimme lässt mich an vergangene Zeiten denken.

"Shay Mitchell, du siehst aus wie eine verheulte Vogelscheuche. Hast du etwa gerade geweint?"

Sie sieht, dass ich geweint habe. Gerade habe ich noch mit Stolz geweint und es war mir egal, was die anderen denken, doch jetzt schäme ich mich plötzlich dafür, emotional geworden zu sein und Schwäche gezeigt zu haben.

"Ach Shay, ich wusste immer, dass du ohne mich versagen würdest. Jetzt muss ich mich direkt für dich schämen. Aber wir bekommen das wieder hin, ok?"

Ich hatte mit Vanessa abgeschlossen. Ich habe mir geschworen, dass ihre Worte mir nie wieder so weh tun würden wie sie es damals taten. Doch ich habe mich getäuscht, sie tun genauso weh wie früher.

"Ich...ich weiß nicht wie ich es sagen soll...ich weine sonst nie, wirklich." Ich versuche zu erklären, warum ich geweint habe, obwohl ich weiß, dass es zwecklos ist, weil Vanessa mich längst verurteilt hat.

"Ach Gott. Ich sag dir jetzt mal was: Ich werd dich in den nächsten paar Tagen wieder zurück zu dem machen, was du warst, als ich gegangen bin. Das ist doch lächerlich, was du hier veranstaltest. Wir wohnen sogar in einem Zimmer, weil Toby mich bei sich wohnen lässt. So wie in früheren Zeiten."

Ich will am liebsten kotzten, aber stattdessen setzte ich mein Fake Lachen auf. Vanessa hat einen Effekt auf mich, der mich mein gesamtes Selbstbewusstsein vergessen lässt und doch bewundere ich sie bis heute.

Das was zwischen mir und Vanessa ist, ist schwer zu beschreiben. Um zu verstehen, warum das Verhältnis zwischen uns so ist, wie es ist, müsste man die ganze Geschichte kennen. Und an die möchte ich keinen Gedanken verschwenden. Ich habe nie mit jemandem darüber geredet, nicht mal mit Sara und so soll es auch bleiben. Über die Zeit bevor ich Sara getroffen habe, möchte ich nicht reden. Es ist einer dieser Teile meines Lebens, die in einen Schatten getaucht sind. Jeder hat solche Teile, doch bei mir sind es ganze Jahre.

Ich schaue hoch in den Himmel und blicke dann auf Vanessa, die sich wieder auf das Motorrad begibt.

"Wir sehen uns später Schätzchen."

Mit dem Wort 'Schätzchen' fahren Vanessa und Toby los und lassen mich allein zurück.

Mein Hass gegen dieses Wort ist fast größer, als mein Hass gegen Vanessa und diese Situation. Und doch werde ich Vanessa immer mehr als alles verachten und gleichzeitig lieben. Bin ich komisch oder ist das noch normal?


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