22-Weil ich 'Angeschrien' heiße?

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Die folgende Nacht verbrachte ich mit Büroarbeit und zerbrach mir nebenbei den Kopf über Marius. Hätte ich ihn doch noch einmal anrufen sollen?
Was wäre passiert, wenn es tatsächlich zu einem Gespräch gekommen wäre?
Diese und jene Fragen schwirrte in meinem Kopf herum, weswegen es unmöglich war irgendwie zu schlafen.
Und deswegen saß ich jetzt vollkommen gestresst, müde und einfach nur fertig mit den Nerven in Annikas Büro und ging E-Mails durch.
Ich war froh, wenn das alles wieder vorbei war. Mit einem Seufzen packte ich einen Stapel mit Papieren, die ich mit Ju besprechen musste und erhob mich. Doch bevor ich den ganzen mit ihm Papierkram durchging, musste ich mir noch eine Unterschrift von Vince holen. Und der saß oben in seinem Studio.
Also machte ich einen Abstecher nach oben und klopfte leise an die Tür, worauf er den Kopf hob. Ein leichtes Grinsen erschien auf seinem Gesicht und im nächsten Moment öffnete er die Tür: "Du siehst ziemlich fertig aus."
"Danke.", erklärte ich sarkastisch und legte das Blatt vor ihn hin, "Ich brauche nur deine Unterschrift." Sofort griff er nach einem Kugelschreiber und unterschrieb an der dafür vorgesehenen Stelle, bevor er mich ansah. Und das ziemlich lange.
"Jetzt sag schon.", seufzte ich, "Du willst doch irgendwas über mich und Marius sagen."
"Ich glaube ihr seid alt genug, um das allein zu klären.", erklärte er und stützte seinen Kopf auf seiner Hand ab, "Aber du siehst echt schlimm aus."
"Ich fühl mich auch so, glaub mir.", lächelte ich matt und lief einige Schritte rückwärts, bevor ich mich umdrehte.
Ohne wirklich zu registrieren, dass Vince mir folgte, lief ich zur Treppe, doch blieb an der Schwelle abrupt stehen um eine Frage zu stellen. Und da Vince damit nicht gerechnet hatte, krachte er volle Kanne in mich hinein. Sofort geriet ich in's Straucheln und kippte nach hinten.
"Vorsicht!", konnte Vince nur noch warnend herausbringen, während seine Hand nach meinem Arm schnappte, doch es war zu spät. Mit einem dumpfen Schlag landete ich mit meiner Wirbelsäule auf der Kante einer Treppenstufe und schlitterte einige Stufen, die ganzen Blätter vor und unter mir, nach unten. Jedes Mal traf es eine andere Stelle an meiner Wirbelsäule und jedes Mal schoß ein höllischer Schmerz durch mein gesamtes Rückgrat. Natürlich machte das ganze einen unglaublichen Krach und ich war froh, als ich endlich anhielt und Stille einkehrte. "Hanna! Alles gut?", erklang sofort Vince' besorgte Stimme von oben und er fing an sich einen halbwegs sicheren Weg durch die Blätter zu mir zu suchen. "Alles bestens.", brachte ich nur zitternd hervor, bevor ich mühevoll aufstand und anfing die ganzen Blätter vom Boden aufzuheben, den Schmerz in meiner Wirbelsäule ignorierend, "Hilf mir lieber die Blätter wieder einzusammeln, bevor die Anderen etwas merken."
In meinen Augen sammelten sich Tränen. Verdammt, jetzt war der Moment gekommen, vor dem mich Marius gewarnt hatte. Ich hatte komplett die Kontrolle verloren, hatte meine Beziehung in Frage gestellt und mich maßlos vernachlässigt. Die Wahrheit tat weh und in diesem Moment war ich mir nicht sicher, ob mein Rücken oder mein Gewissen mehr schmerzte.
Und ich hoffte inständig, dass sie es niemals erfahren würden. Vince reichte schon.
"Hanna!", erklang dummerweise im nächsten Moment eine neue entsetzte Stimme hinter mir und ich drehte mich fluchend um. Marius stand mit einem geschockten Gesichtsausdruck hinter mir, Ju und Passi einige Meter weiter, ebenfalls mit der gleichen Mimik. Sein Anblick tat weh. Er hatte es geahnt. Er hatte sich Sorgen um mich gemacht. Und ich hatte ihn wie den letzten Dreck behandelt.
Wortlos fing ich weiter an die Blätter aufzuheben, doch Marius hielt meine Hände mit einem Mal fest: "Hey... Hör auf damit, wir machen das schon."
"Nein...ich...das ist meine Aufgabe.", brachte ich nur zittrig heraus, während sich Ju, Vince und Passi daran machten, die Papiere auf einen Stapel zu legen. Langsam verließen mich auch meine letzten Nerven, was wohl an dem heftigen Schlafmamgel lag. Wahrscheinlich dauerte es nicht mehr lange, bevor ich einen kompletten Nervenzusammenbruch erlitt.
"Du hast genug für heute gearbeitet.", erwiderte Marius entschieden. "Ich muss das wirklich fertig kriegen! Das geht nicht anders. Ich-", fing ich hektisch an, doch wurde von ihm unterbrochen: "Du bist fertig."
Damit legte er seine Hände zwischen meine Schulterblätter und an meine Kniekehlen und hob mich hoch, bevor er mich in's Büro trug.
"Lass mich runter!", murmelte ich nur kraftlos, unfähig mehr herauszubringen und versuchte die aufsteigenden Tränen zurückzuhalten.
Ich wusste nicht einmal, ob ich nun wegen dem Schmerz, der unweigerlich in meinem Rücken pochte oder wegen der Tatsache, dass ich mich wie der letzte Arsch verhalten hatte, weinte.
Wahrscheinlich wegen beidem.
"Damit du wieder weiterarbeiten gehst? Vergiss es.", protestierte er und ließ sich auf seinen Schreibtischstuhl sinken, mich auf seinem Schoß, "Ich sorge dafür, dass du die nötige Auszeit bekommst."
Eine Weile sah ich ihn an
Er redete mit mir...
Und das ohne jegliche Spur von Bosheit.
Eine Welle der Erleichterung überrollte mich. Vielleicht war es doch nicht so schwer, wie ich gedacht hatte.
Doch im gleichen Moment keimten Zweifel in mir auf. Oder das war die Ruhe vor dem Sturm...
Gleichzeitig nahm ich aber auch seine Hand wahr, die vorsichtig über meinen Arm strich. Würde er das auch machen, wenn er sauer war?
Und genau das verwirrte mich gerade komplett.
Überwältigt von diesen ganzen Gefühl, legte ich meinen Kopf auf seiner Schulter ab: "Ich bin ein idotisches Arschloch."
"Sind wir das nicht Beide?", fragte er besänftigend und strich weiter über meinen Arm.
"Du hast dir nur Sorgen gemacht.", verteidigte ich Marius sofort und schniefte kurz, "Ich hätte mir nicht so viel aufhalsen dürfen."
"Hast du aber und das kann man nicht mehr ändern.", murmelte er und ich nickte beschämt, "Aber es ist okay."
"Nein, gar nichts ist okay.", protestierte ich und sah ihn an, "Ich hab dich vollkommen ignoriert und dass nur, weil ich es nicht auf die Reihe kriege mal auf mich selbst aufzupassen. Und trotz allem bist du jetzt keine Sekunde böse."
"Weil es nichts bringt.", konterte er, "Wir haben Beide Mist gebaut...und ich will endlich nicht mehr von dir ignoriert werden und dich wieder bei mir haben."
"Da geht's dir ja genauso wie mir.", lachte ich tonlos und tastete nach seiner Hand, "Also...vergessen wir's?"
"Gerne.", lächelte er leicht und verschränkte seine Finger mit meinen, "Wahrscheinlich klappt das nicht auf Anhieb...aber wir vergessen es. Was war eigentlich gestern los?"
Beschämt seufzte ich: "Ich wollte mich eigentlich entschuldigen. Aber dann habe ich Panik bekommen."
"Wieso Panik? Bin ich so schlimm?", fragte er lachend nach und ich grinste ebenfalls ein wenig.
"Naja eigentlich habe ich gedacht, dass du mich anschreist...", erklärte ich und hob meinen Kopf.

"Weil ich 'Angeschrien' heiße?"

"Keine Ahnung.", gab ich ehrlich zu, "Nach müde kommt dumm."
Mit einem belustigten Nicken stimmte er zu und ich stellte die nächste Frage: "Warum hast du mich gestern zurückgerufen?" "Weil ich wissen wollte, was du vorhattest. Und weil ich insgeheim gehofft hatte, dass wir den Streit dann schon beenden können. Dann wäre ich definitiv zu dir gekommen.", murmelte er und legte seine Stirn an meine, "Und apropos müde...du versuchst jetzt mal ein wenig zu schlafen."
"Ist wohl besser...", flüsterte ich und versuchte aufzustehen, doch Marius hielt mich fest.
"Und da ich mir zu 100% sicher sein will, dass du wirklich schläfst, bleibst du hier."
"Dann kannst du aber nicht arbeiten." warf ich ein und kuschelte mich ein wenig an ihn.
Schmunzelnd streckte er seine Arme aus und tastete nach Tastatur und Mouse: "Siehst du, geht doch."
"Du bist verrückt.", brachte ich gerade noch so heraus, bevor ich auch schon weg war.

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