Kapitel 54

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Erschrocken drehte Lyra sich um und blinzelte in das einfallende Licht. Die Tür stand offen und eine hagere hochgewachsene Person ragte vor ihr auf.
Das Biest.

„Hatte ich nicht ausdrücklich gesagt, dass du nirgendwo hingehen darfst?!"
Lyra schluckte, warf ihr aber einen wütenden Blick zu.
„Und was soll ich hier groß entdecken außer Staub!", schnauzte sie.
„Es geht um's Prinzip!"
„Ich pfeif aufs Prinzip!"

Schneller als Lyra blinzeln konnte war das Biest bei ihr und packte sie mit schlafwandlerischer Sicherheit und erstaunlicher Kraft am Arm und zog sie aus dem Zimmer. Lyra stolperte hinterher, während die Tür sich von alleine hinter ihr schloss.

„Lass mich los!", zischte Lyra wütend und zerrte an ihrem Handgelenk. Mit der gelernten Grifftechnik entwand sie sich dem Biest und blieb stehen. „Was soll das werden?!"

Das Biest hielt inne und drehte sich zu ihr um. Lyra bemerkte, dass sie heute anders aussah als sonst. Sie hatte die silberweißen Haare zu einem Seitenzopf gebunden und unter dem dunkelblauen Bademantel aus Satin konnte sie ein feines spitzenbesetztes Nachthemd erspähen.

Die Augenbrauen ihrer Großmutter zogen sich zusammen und sie starrte Lyra finster an.
„Du kommst einfach in mein Haus spazierst und erlaubst es dir herumzuschnüffeln!", zischte sie mit erhobener Stimme. „Und wagst es dich meinem Befehl zu widersetzen. Was trägst du da überhaupt? Ist das zurzeit Mode? Früher ist man nicht so ins Bett gegangen, wie peinlich!"

Lyra starrte sie finster an. Sie brauchte keinen Blick auf ihr Nachthemd zu werfen um zu wissen was sie meinte. Sie trug einfach nur ein T-Shirt das ihr bis zur Mitte der Schenkel reichte. Es war dasselbe Schlaf-Shirt das sie angehabt hatte, als sie auch Tim in der Nacht getroffen hatte. Nur das es ihr dort nicht einmal ansatzweise so peinlich gewesen war wie jetzt. Denn ohne es zu wollen fand Lyra das Biest hübsch, und mit den zerzausten Haaren und dem abgetragenen T-Shirt fühlte Lyra sich nicht unbedingt besser.

„Normalerweise trifft man in diesem Aufzug auch niemanden!", murrte sie deshalb halbherzig. Außer man flieht vor Werwölfen und läuft nachts durch ein fremdes Haus! schoss es ihr durch den Kopf und sie seufzte.

„Ich habe eine Frage.", sagte sie und drehte sich die Haare im Nacken zusammen. „Warum hasst du mich so?"
Das Biest zog die Augenbrauen wenn möglich noch weiter zusammen. Sie starrte sie so durchdringend und verkniffen an, das Lyra beinah zurückzuckte. „Weißt du was?", murmelte sie. „Ich glaube ich will es gar nicht wissen!"

„Verlasse augenblicklich diesen Flur!", zischte das Biest.
„Mit Vergnügen!", sagte Lyra sarkastisch. „Soll ich noch salutieren?!"
Das Biest warf ihr einen so abschätzigen Blick zu, dass Lyra es vorzog sich zu beeilen.

Mit schnellen Schritten, aber ohne sich die Blöße zu geben vor dem Biest davon zu rennen, steuerte sie auf die Treppe zu. Erst als sie auch wirklich außer Sichtweite war, sprintete sie die Treppen herunter und in ihr Zimmer. Mit einem tiefen Seufzer blieb sie an der geschlossenen Tür stehen und starrte finster in den Raum.

„Das hat ja gut funktioniert!", murrte sie und rieb sich die Augen. „Einen Tag hier und schon hasst mich diese Frau wie sonst niemand anderen!"

Sie ließ sich an der Tür hinuntergleiten und starrte in das graue Zwielicht, dass ihr Zimmer erfüllte. Plötzlich hielt sie inne. Warum hat sie mich gehen lassen?!  kam Lyra die Frage auf. Warum hat sie mich einfach so gehen lassen? Hätte sie mich nicht noch mehr anschreien müssen? Wäre das unter ihrer Würde gewesen? Hat sie keine Strafe oder so etwas für mich? Das ging doch alles viel zu leicht?!

Stirnrunzelnd blickte Lyra ins Leere und zwirbelte eine Haarsträhne von ihr in der Hand. Vielleicht würde die Strafe ja noch kommen... was hatte das Biest überhaupt dort oben gemacht? War dort noch etwas, das Lyra übersehen hatte? Irgendein Zimmer, eine Geheimtür hinter der sich das Geheimnis ihrer Großmutter verbarg? Lyra konnte sich nicht vorstellen, dass ihre Großmutter in das Zimmer ihrer Tochter gegangen wäre. Hätte das sein können? Wieso sonst hätte das Biest die Tür öffnen sollen? Hörte man es eigentlich, wenn Lyra mit Geistern sprach? War sie dadurch vielleicht auf Lyra aufmerksam geworden?

Wolf howlWo Geschichten leben. Entdecke jetzt