Inzwischen hatte Lyra das Gefühl, sie saß mindestens eine halbe Stunde stumm an die Wand gelehnt und starrte die Gegenüberliegende an. Ein Bein ausgestreckt, eins angewinkelt, die Arme vor der Brust verschränkt, eher schlaff als wirklich energisch.
Es war unglaublich wie viel Zeit es plötzlich gab wenn man nichts zu tun hat und sich mit sich selber beschäftigen muss. Gab es schon Leute die umgekommen waren vor Langeweile? Vielleicht spätestens dann wenn die immer wieder auf einen einprasselnden Gedanken einen soweit gebracht hatten. Lyra hatte jedenfalls über eine Menge nachzudenken.
Sie sollte sterben.
Das war der Plan von den Werwölfen, die ganze Zeit schon. Sie glaubte nicht das Aya log, was würde ihnen das auch jetzt noch bringen?
Die Frage war - wann sollte das passieren? Ihre Seele war nicht da, aber Aya hatte gesagt sie würde kommen, wie auch immer. Ob Paṉikkaṭṭi wusste wie er das anstellen sollte? Musste sie ihn dann wieder sehen? Im Grunde nur logisch. Trotzdem spannte Lyra sich automatisch wieder an und sicherheitshalber spähte sie in den Gang, obwohl sie ihn längst gehört hätte wenn er gekommen wäre. So wie er letztes Mal gepoltert war...
Ihre Gedanken schweiften wieder zu der Sache mit ihrer Seele. Aya sagte ohne Seele sei man verrückt und nicht zurechnungsfähig. Wie kam es dann dass sie normal handeln, denken und leben konnte wie man eben so lebt?! Warum war sie nicht verrückt? Und warum war ihre Seele nicht da? Im Grunde war es super, sie konnte sich nicht beschweren - für's Erste zumindest. Sie hatte eine kleine Gnadenfrist was ihren geplanten Tod anging. Was wollte man mehr.
Aber wo konnte ihre Seele bloß sein? Wie kam es dazu dass sie keine hatte? Wer konnte ihr da helfen? Sie war auf sich selbst angewiesen.
Sie seufzte und legte den Kopf in den Nacken. Hier sitzen zu müssen ohne zu wissen wie es jetzt weiter ging, was dieser Typ mit ihr vorhatte und was sie jetzt überhaupt tun konnte machte sie wahnsinnig!
Sie versuchte, leise vor sich hinsummend, sich abzulenken und schuf eine kleine Kraftkugel die in einem dunklen Violett in ihrer Hand leuchtete und die Größe eines Flummis hatte. Die Idee war ihr erst vor kurzem gekommen. Damit konnte man sich wenigstens ein bisschen beschäftigen. Während sie die Kugel langsam auf und ab hüpfen ließ schweiften ihre Gedanken wieder zu dem zweiten dominierenden Thema: wie kam sie hier raus?
Sie hatte auf ihrer Rundtour keinen Schlüssel oder ähnliches finden können das zu den Zellentüren gepasst hätte. Sie konnte aber auch an dem Zellengitter selber kein Schloss entdecken, es schien einfach in die Wand überzugehen und ihre Kräfte waren daran wirkungslos. Aus der Zelle kam sie physisch also nicht raus. Sie wusste auch nicht ob sie Louis auf irgendeine Weise eine Nachricht schicken konnte, mit der Kraftkugel vielleicht, aber dafür musste sie wissen wo sie war um sich zu orientieren, und außer der kurzen Strecke mit der Bahn und der Einkaufsstraße kannte sie nichts in dieser Stadt. Wie kam es eigentlich dass das Hauptquartier der Werwölfe in derselben Stadt lag wie der Wohnsitz ihrer Großeltern, einer der größten und stärksten Jägerfamilien? Würde man nicht vermuten dass sie hier sind? Oder befanden sie sich nicht einmal mehr in derselben Stadt...
Lyra schüttelte schnell den Kopf. „Nein!", murmelte sie. Das würde schon nicht der Fall sein, dafür war sie doch viel zu schnell wieder wach geworden und es hätte doch viel zu lange gedauert, um aus der Stadt zu verschwinden...
Sie hörte auf sich weiter solche panischen Gedanken zu machen und seufzte in sich hinein.
Die kleine Kugel hüpfte nun durch die Luft in Spiralen nach oben während Lyra ihm gedankenversunken zusah. Irgendeine Möglichkeit musste es doch für sie geben etwas zu tun! Irgendwie musste sie doch raus kommen oder jemanden verständigen wenn schon das Erste nicht ging!
Nur wie?
Lyra blickte zum Fenster das inzwischen wieder geschlossen war. Wie weit reichte der Radius ihrer Kraftkugel und die Verbindung zu dieser? Sie hatte es bisher lediglich in einen nebenstehenden Kleiderschrank, außerhalb eines Klassenraums und bis oben in das Wohnzimmer geschafft. Würde sie es auch aus dem Keller raus mehrere Straßen weit schaffen?
Die kleine Kugel die fröhlich unter der Decke herumdümpelte verschwand in der Wand und wenige Sekunden später sah Lyra ihr zu, wie sie durch die Außenwand am Fenster verschwand.
Lyra schloss in der Zelle die Augen und schlug sie mit der Sicht auf die Hauswand, die sie schon öfters durch das Fenster gesehen hatte, auf. Soweit so gut. Sie blickte sich um. Es war tatsächlich ein kleiner Hinterhof, mit einigen Fahrrädern und Pflanzen in Kübeln zu einer kleinen Gruppe zusammen gestellt. Kurz entschlossen flog Lyra in die Höhe und blickte über ein Dächermeer an Reihenhäusern. Sie drehte sich einmal im Kreis konnte aber keinen Anhaltspunkt finden der ihr verriet wo sie war. Einen Kirchturm fand sie, aber sie konnte sich nicht erinnern ihn jemals gesehen zu haben.
Frustriert presste Lyra die Lippen zusammen, während sie sich im Kreis drehte. Konnte sie vielleicht ein Straßenschild finden, etwas, dass ihr einen Anhaltspunkt gab.
Sie bewegte sich über das Dach auf die Haustür zu und spähte hinunter. Es war niemand zu sehen. Immerhin etwas. Lyra vergewisserte sich abermals, dass sie nicht von einem Werwolf plötzlich erwischt werden oder eine alte Dame mit ihren magischen Kräften zu Tode erschrecken würde. Aber die Straße war wie leer gefegt.
Lyra machte einen kleinen Sprung über die Dachrinne und glitt dann an die Wand gepresst zwischen den Fenstern hinunter. Sie fand nur einen abgeblätterten Namen auf einem kleinen Messingschild über der Klingel. Lawrence konnte sie einigermaßen erkennen, aber der Name sagte ihr nichts.
Sie blies in der Zelle die Backen auf und blickte die Straße hinunter.
Es war frustrierend.
Gibt es nicht irgendetwas? Irgendetwas, dass mir hier helfen könnte?!
Lyra versuchte nicht zu verzweifeln und suchte sich weiter ihren Weg durch die ruhigen Straßen, die sich ähnelten wie ein Ei dem anderen. Alles kleine Reihenhäuser mit Vorgärten, individuell gestaltet, etwas heruntergekommen aber gut gepflegt.Mit einem plötzlichen Ruck wurde sie zurück gezogen.
Halb in der Luft taumelte die kleinen Kraftkugel kurz bevor sie ihr Gleichgewicht wiederfand. Lyra schnappte nach Luft und sah sich auf der Straße um, doch sie konnte niemanden sehen. Auch auf dem Gang vor der Zelle entdeckte sie, nach dem Öffnen der Augen, nichts das diesen Ruck erklären könnte.Mit gerunzelter Stirn versetzte Lyra sich wieder in die Kraftkugel und wollte sich weiter umsehen, als sie wieder abrupt zurück gezogen wurde, dieses Mal sogar noch stärker.
„Was zum...", murmelte sie.
Wie ein Sandsturm bahnte sich die nächste Attacke an. Der Ruck riss sie beinah aus der Luft und zog sie in einem riesigen Sog zurück. Sie konnte sich nicht dagegen wehren, so sehr sie es auch versuchte. Die unsichtbare Kraft zog sie wieder zurück ins Haus, unbewusst krallte Lyra sich in der Zelle an den Gitterstäben fest.
Mit einem Ruck fand sie sich wieder in der Zelle wieder. Sie spürte noch mit geschlossenen Augen den rauen Boden unter sich und den kalten Luftzug. Irgendwie hatte sie die Kontrolle über ihre Kraftkugel verloren.Lyra versuchte ihre Augen zu öffnen, doch es war als würden sie durch eine klebrige Masse zusammengehalten.
Sie verlor jegliches Gefühl für ihren Körper und als sie endlich die Augen aufbekam, war sie zwar bei Bewusstsein, aber alles Schwarz.

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Wolf howl
Fantasy„Ich werde ihn schon noch finden!", rief der Mann wütend und mit dröhnender Stimme. Der ganze Boden schien zu vibrieren während Lyra am Rande mitbekam wie er auf alle Viere fiel und auf sie zulief. Es war plötzlich kein Mann mehr. Es war ein Tier. E...