"Vergiss es nicht, Evan!"
"Ja, keine Sorge!"
Es war wieder einer dieser Tage, an denen mein Vater zu viel von mir verlangte. Ich war schließlich kein Roboter und auch sonst nicht so gut in Multitasking wie meine Mutter. Sie war wirklich gut darin, mehrere Sachen gleichzeitig zu erledigen, ohne auch nur einen Funken Stress zu versprühen.Ich schrieb schon seit zwei Stunden an dieser Rede, um sie so zu perfektionieren, dass sie meinem Vater gefiel. Ich hatte keine Ahnung wie er reagieren würde, wenn ich ihm erzählte, dass ich gar nicht vorhatte, seine Firma zu übernehmen, sondern erst einmal etwas nur für mich tun wollte. Ohne Verantwortung. Ohne Erwartungen. Das Einzige was mich hier noch hielt, war meine kleine Schwester. Sie einfach mitzunehmen erschien mir als keine gute Idee. Ganz davon abgesehen, dass mir mein Vater den Kopf abreißen würde, wenn ich sie von ihren schulischen Leistungen abbrachte.
Völlig am Ende schlug ich die Mappe zu. Er würde am Boden zerstört sein und das wusste ich, doch ich wollte nicht länger einfach nur herumsitzen und warten, bis ich einen Job bekam, für den ich keinen Finger gekrümmt hatte. Profiboxer. Das wäre schon eher mein Geschmack, aber, wenn ich von so etwas nur anfing, konnte ich schon förmlich spüren, wie mich mein Vater mit seinem Blick erdolchen wollte. Etwas Besseres sollte ich in seinen Augen werden. Nur bei dem Gedanken an das Meeting heute, bei dem mich mein Vater unbedingt dabeihaben wollte, spannte sich das Hemd, das ich trug, enger über meine breiten Schultern und drohte mich zu erdrücken. Ich öffnete rasch die ersten beiden Knöpfe und atmete durch. Schon viel besser. Es war ein schrecklich heißer Tag. Der Ventilator auf meinem Tisch erfüllte seinen Zweck nicht und gab zu allem Überfluss auch noch ein schrecklich nervtötendes Summen von sich. Warum war ich gestern Nacht auch dagegen gelaufen? Ich massierte meine pochende Schläfe.
Mein Vater sollte bloß nicht wieder davon erzählen, was ein toller Sohn ich doch war. Denn das war ich wirklich nicht. Erst gestern war ich sturzbetrunken von einer Party nach Hause gekommen und hatte mich vor allen Pflichten gedrückt. Ich war sofort in das Zimmer meiner kleinen Schwester geflüchtet und hatte sie zu allem Überfluss auch noch aufgeweckt. Der Preis für den besten Bruder des Jahres war mir sicher. Ganz sicher dafür, dass sie sich gefreut hatte mich zusehen, mich bei sich haben wollte, ich sie aber nicht mit meiner schrecklich stinkenden Fahne verschrecken wollte und einfach rausgegangen war, ohne ihr Gute Nacht zu sagen. Dafür hatte ich heute beim Frühstück büßen müssen. Nach einem Schokokeks hatte sie mir dann aber doch verziehen. Wenn Lou nicht noch hier wäre, dann wäre ich schon längst einfach mal weit weg gegangen. Dorthin, wo mich niemand kannte und ich einfach durchatmen konnte. Das war mein Ziel. Und sobald sie älter werden würde, würde ich dieses Ziel mit ihr teilen. Einfach nur wir beide gegen den Rest der Welt.
Laute Geräusche ertönten von unten. Klirren, als wäre eine Vase auf dem Fußboden zerscheppert und dann ein lautes Brüllen, das fremd klang. Mit gerunzelter Stirn erhob ich mich und öffnete die Tür. Ich lauschte misstrauisch. Hatte mein Vater etwa die Lieblingsvase meiner Mutter umgeworfen? So laut stritten meine Eltern doch gewöhnlich gar nicht. Irgendetwas kam mir hier gewaltig faul vor. Der spitze Schrei meiner Mutter war Antwort genug.
Ich eilte die Treppe hinunter und kam noch vor der Tür zum Stehen, als ich etwas gefährlich schwarzes in der Hand eines fremden Mannes sah. Ein Bart, ungepflegter als der meines Onkels und vereinzelte graue Härchen die aus dem schwarzen Haarschopf herausstachen wie eine Drohung. Viel bedrohlicher war aber die Pistole, die der fremde Mann fest umklammerte und sicher auf meine Mutter zielte. Sein Gesicht war mir urplötzlich doch nicht mehr so fremd, und dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Erst vor zwei Tagen hatte ich ihn in den Nachrichten gesehen. Als wohl gefährlichsten Mann ganz Amerikas. Was zum Teufel, wollte dieser Mann von meiner Familie?
Ich wollte nicht zögern, doch ich tat es. Ich sollte hineinstürmen und meine Eltern verteidigen, aber die Worte meines Vaters hallten in meinem Kopf nach. 'Wenn wir in Gefahr sind, gehe niemals dazwischen, sorge dafür, dass du am Leben bleibst.' Hatte er schon damals geahnt, dass uns eine Situation wie diese erwarten würde? Hatte er diese Worte deswegen immer und immer wiederholt, wenn wir trainierten.
Mein Vater trat vor meine Mutter, um sie aus der Schusslinie zu nehmen. In meinen Fingerspitzen kribbelte es. Ich konnte nicht auf ihn hören. Ich musste dazwischen gehen. Im nächsten Moment ertönte ein ohrenbetäubender Schuss und ich traute meinen Augen, die vor Schock geweitet waren, nicht. Der erneute Schrei meiner Mutter bestätigte, was ich befürchtete. Die Wut, die mich in der nächsten Sekunde überkam war unermesslich.
Wie ein Wildgewordener und so schnell, dass er mich nicht kommen sah, schoss ich auf den Mann zu, der gerade meinen Vater erschossen hatte und verpasste ihm einen Kinnhaken, mit solch einer Kraft, dass er stöhnend zurücktaumelte. "Evan! Verschwinde!" Die verzweifelten Rufe meiner Mutter spornten mich nur noch mehr an. Ich wollte erneut auf ihn losgehen, doch der nächste Schuss, dessen Kugel nicht mich traf, lähmte mich. Voller Entsetzen ließ ich von ihm ab und starrte auf einen Handlanger, der soeben meine Mutter erschossen hatte.
Die Trauer, die sich einen Weg in mir hochbahnte, war viel mächtiger als meine Wut. Nicht meine Mutter. Nicht sie. Wie in Trance stolperte ich auf meine Eltern zu, deren leblosen Körper eine rote Spur auf dem Boden hinterließen. Die Menschen, die mich großgezogen hatten und denen ich alles verdankte, waren tot. Vor meinen Augen ermordet und so unerwartet aus dem Leben gerissen, dass ich mich nicht rühren konnte. Das Ziehen, das sich in meiner Brust ausbreitete und mit jedem Schritt stärker wurde, zerriss etwas in mir.
Ein animalisches Knurren entwich meiner Kehle und ich wollte wieder auf die Mörder meiner Eltern losgehen, doch als ich mich umdrehte, waren sie verschwunden. Nur die zerbrochene Vase war auf dem Boden zurückgeblieben, wie ein Zeichen dafür, dass mein ganzes Leben innerhalb von wenigen Minuten in tausend Scherben zersplittert war. Der nächste Gedanke der mir in den Kopf schoss war beängstigend. Lou. Ich stolperte beinahe, als ich die Treppe hinaufrannte und die Tür zu ihrem Zimmer aufstieß. "Louisiana!", schrie ich aus voller Kehle, doch sie war nicht mehr da. Das Zimmer in das ich blickte, war leer und die Totenstille war nur einer der Gründe, warum ich das Bewusstsein verlor.
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Revenge - Für das Licht in der Dunkelheit
Mystery / ThrillerBAND 1 Seine Schwester entführt von dem meist gejagten Verbrecher Amerikas. Seine Eltern vor seinen Augen ermordet. Evan will nur noch eins: Seine Schwester aus den Fängen der Dunkelheit befreien und Rache nehmen. Er hat nur eine Chance. Doch wird e...