Kapitel 23

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Am nächsten Tag fühlten sich meine Glieder schrecklich schwer an. In schlüpfte in bequeme Sportklamotten und huschte leise durch die Flure. Ich wusste, dass Dominic hier irgendwo trainierte, und ich war mir noch sicherer, dass es in diesem Gebäude mindestens einen Raum geben musste, in dem sich auch Mrs Wesley auspowern konnte, wenn ihr die Arbeit zu Kopf stieg. Ich machte einen kurzen Abstecher in die Küche, um mir eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank zu schnappen und traf dort auf Tina, die mit einem Stift im Mund grübelnd eine Liste durchzugehen schien.

"Was tust du dort?" Erschrocken japste sie auf und sah auch so aus, als würde sie in der nächsten Sekunde nach der Bratpfanne neben ihr greifen wollen. "Evan. Du bist es nur. Wieso bist du schon so früh wach?" Ich warf einen Blick auf die Uhr. Es war erst sechs. "Ich konnte nicht mehr schlafen", antwortete ich wahrheitsgemäß. Ein Alptraum hatte mich wieder die letzten Nerven gekostet. Da schlief ich lieber gar nicht. Aber davon musste Tina nichts wissen, und das wollte sie wahrscheinlich auch gar nicht.

"Also, was tust du da?", wiederholte ich meine Frage.
"Hat Elenor dir gar nichts-" Sie hielt einen Moment inne. "-geschrieben?" Ich schüttelte den Kopf. "Sie hat morgen Geburtstag und wie jedes Jahr steht eine große Feier an, die Elenor nicht ausstehen kann. Mrs Wesley jagt mich schon seit gestern hin und her damit auch ja nichts schiefgeht. Ich werde noch verrückt." Sie machte eine Geste, die wohl zeigen sollte, dass sie Elenors Tante am liebsten erwürgen wollte. Ich konnte es ihr nicht verübeln. Schon oft hatte ich das gleiche Verlangen verspürt. Nur dass ich es für das Leben meiner Schwester wirklich tun würde und sie nur versuchte ihrer Wut Dampf zu machen. Ich ging nicht weiter auf das Thema ein.

"Weißt du, wo es hier einen Raum mit Sportgeräten gibt?" Tina spielte mit dem Stift und sah zu mir auf. "Der ist im Keller. Ich gehe dort nie freiwillig runter, aber Dominic scheint der kaum beleuchtete Raum zu gefallen." Dominic. Ich konnte es nicht verhindern, sondern musste sofort wieder an Thea denken. Und auch der Drang ihm eine zu verpassen war wieder da. Gestern hatte es mich große Überwindung gekostet, nicht einfach auszuholen. Und ich hatte keine Ahnung, wie lange ich es noch durchhalten würde. "Danke", sagte ich schnell und entschied mich plötzlich doch dafür eine Runde laufen zu gehen. Die Lust am Boxen war mir vergangen und ich brauchte in diesem Moment wohl eher etwas, was mir einen klaren Kopf verschaffte und nicht die Wut in mir steigerte.

Die frische Luft tat gut. Ich joggte im Park und lauschte dabei der Musik die aus meinen Kopfhörern drang. Sehnsüchtig beobachtete ich Eltern dabei, wie sie schon so früh am Morgen mit ihren Kindern spielten. Es war wie ein Messerstich in die Brust und doch weckte es gleichzeitig schöne Erinnerungen. Dad hatte nie so mit mir gespielt, aber ich erinnerte mich noch genau an die Tage, an denen Lou und ich vollkommen dreckverschmiert vom Park zurückgekommen waren. In diesem Moment vermisste ich die Zeit mit meiner Schwester am meisten.

Ich stoppte am Spielplatz und machte ein paar Klimmzüge, die in meinen Muskeln schmerzten. Liegestütze folgten und ich genoss das Alleinsein. Während ich vor ein paar Wochen die Einsamkeit gemieden hatte, in der Angst vor meinen Gedanken und Träumen, genoss ich es jetzt, einfach mal durchatmen zu können. Hier war ich vollkommen ungestört.

Ich joggte zurück und kam noch eine halbe Stunde bevor mich die Pflicht rief, an. Ich zog mir das schweißgetränkte Shirt über den Kopf, entledigte mich auch meinen restlichen Klamotten und sprang in die Dusche. Ich stellte das Wasser kalt ein und fuhr mir mit beiden Händen durch das Gesicht. Die Kälte fühlte sich erstaunlich angenehm auf meiner Haut an. Nur mit einem Handtuch um die Hüfte gewickelt, war ich wieder in meinem Schlafzimmer und verwandelte mich in wenigen Minuten wieder zu dem Bodyguard, der ich sein musste.

Draußen wartete Louis schon auf mich, der sogar mir die hintere Tür des Geländewagens aufhielt. Mit einem leichten Zunicken stieg ich ein und war überrascht, als ich Elenor schon auf der anderen Sitzfläche entdeckte. Ihr Blick war auf das Handy in ihrer Hand gerichtet und sie schien mich nicht zu bemerken. Erst als ich mich leicht bewegte, schoss ihr Kopf in die Höhe und ein leichtes Lächeln umspielte ihre Lippen. Etwas überrascht erwiderte ich ihre freundliche Geste mit einem nicht einmal ansatzweise so freundlichen Lächeln und starrte wohl einen Moment zu lange auf ihre Lippen. Sie richtete ihren Blick wieder auf das elektrische Gerät und der Wagen setzte sich in Bewegung.

"Hast du eigentlich Familie in der Nähe, Evan?" Ich schluckte schwer auf Louis Frage. Natürlich hatte ich damit gerechnet, nicht ewig über mein Leben schweigen zu können, aber ich hatte es trotzdem gehofft. Mein Hals fühlte sich auf einmal schrecklich trocken an und ich streckte meine Hand nach der Minibar aus, um mir eine kleine Wasserflasche herauszunehmen. Gierig führte ich die Flasche an meine Lippen und nahm einen großen Schluck. "Meine Familie kommt nicht von hier", antwortete ich mit rauer Stimme. "Das ist nicht immer leicht. Meine Kinder sehe ich auch nicht besonders oft." Es wunderte mich nicht, dass Louis dazu bereit war, mir seine ganze Lebensgeschichte zu offenbaren. Bei ihm gab es bestimmt keine dunklen Geheimnisse, die ihn bis in seine Träume verfolgten. Keine ermordeten Eltern, keine entführte Schwester.

Am Nachmittag bestellte mich Mrs Wesley in ihr Büro um mich darüber aufzuklären, was ich bei Elenors Geburtstagsfeier zu tun hatte. Ich bemühte mich, nicht die Augen zu verdrehen, als sie mir schon wieder erklärte, wie wichtig es wäre, Elenor unter keinen Umständen aus den Augen zu lassen. Nicht nachdem was letztes Mal passiert war. Ich wusste nicht, ob sie wirklich so paranoid war, oder ob ihre Angst doch berechtigt war. Elenors Vater war der meist gesuchte Verbrecher in Amerika und hatte bestimmt einige Feinde, die um an ihn ranzukommen, Elenor schaden könnten. Ganz zu schweigen von mir, der seit Wochen in diesem Haus lebte und vorgab jemand anderes zu sein. Ich war das beste Beispiel für ihre Angst und ich schämte mich nicht für das angenehme Gefühl in mir, sie überlistet zu haben.

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Ein ziemlich kurzes Kapitel, aber das nächste wird wieder länger :)

Revenge - Für das Licht in der Dunkelheit Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt