Ich war wie versteinert. Viel zu überrumpelt war ich von Elenors Lippen, die für einen kurzen Moment meine berührt hatten. So schnell wie der Kuss begonnen hatte, war er auch wieder vorbei. Und ich starrte in Elenors entsetztes Gesicht. Sie schlug sich die Hand vor den Mund und ich schluckte erst einmal. Was war in sie gefahren?
Nein, was war verdammt noch mal in mich gefahren? Warum hatte ich sie nicht von mir gestoßen? Ich hätte es kommen sehen müssen. Noch schlimmer war aber der Drang ganz tief in mir, sie einfach noch einmal küssen zu wollen.
Viel zu spät realisierte ich, dass eine Person nur wenige Meter von uns entfernt stand und mindestens einen genauso überraschten Gesichtsausdruck hatte. Und dann verstand ich es.
Tina, die uns schon längst erkannt hatte, aber immer noch mit einer Pistole auf uns zielte, entfloh ihrer Schockstarre. Ich war viel zu geübt darin, um nicht zu erkennen, dass sie gar keine Ahnung von dem schwarzen Ding in ihrer Hand hatte, geschweige denn schießen konnte, und einfach nur danach gegriffen hatte, um sich gegen die Einbrecher zu verteidigen.
Rasch ließ sie Waffe sinken. "Elenor? Evan?" Sie stemmte die Hände in die Hüfte. "Solltet ihr nicht auf der Gala sein?" Sie zog eine ernste Miene, die sich schnell in ein siegessicheres Grinsen verwandelte. "Ich habe es gewusst!", stieß sie euphorisch hervor und lächelte Elenor zu, als hätte sie im Lotto gewonnen. Und ich, ich verstand die Welt nicht mehr. "Hast du ihn dir doch gekrallt!" Ich musste mir ein Grinsen verkneifen. Darum ging es also. Der Kuss ergab immer mehr Sinn.
Elenor warf mir einen Blick zu, der ausdrückte, wie unangenehm ihr die Situation war. Ich konnte ihr Unbehagen förmlich spüren. Und es amüsierte mich.
"Wie lange geht das schon mit euch beiden?" Tina verspürte kein Schamgefühl, sie fragte einfach weiter. "Nicht lange", brachte ich gepresst hervor. Tinas Lächeln wurde nur noch breiter. Ich konnte mir schon vorstellen, über was sie immer mit Elenor tuschelte."Aber jetzt mal ganz ehrlich, was sucht ihr hier?" Da Elenor weder Papier noch Stift zu Hand hatte, musste ich wohl nach meinen Schwindelkünsten kramen.
"Für Elenor war diese Gala einfach zu viel. Erst Paparazzi und dann auch noch diese ganzen Menschen, die sie missbillig anstarren. Sie hat einfach Panik bekommen. Wir sind erst an die frische Luft und als es nicht besser wurde, sind wir hierhergefahren, um ein bisschen Zeit für uns zu haben. Wenn du verstehst, was ich meine." Die Zweideutigkeit meiner Worte war nicht zu überhören und ich spürte einen sanften Schlag, der meinen Rücken traf und mich nur noch mehr amüsierte. Es war doch Elenors Plan. Und ich war einfach viel zu gut im Lügen, um es bei zwei Sätzen zu belassen."Weiß deine Tante davon?" Elenor neben mir schüttelte den Kopf. "Dann muss sie davon auch nichts erfahren."
Ich konnte verstehen, warum Elenor Tina so gern mochte. Sie war unkompliziert, vertrauenswürdig und eine Frau die wusste, wann man Karen Wesley lieber etwas verschweigen sollte.
"Wir müssen aber auch gleich wieder los, bevor Dominic bemerkt, dass wir weg sind. Und dann verliere ich meinen Job." Ich war wirklich ein Naturtalent.
"Na gut. Dann bringe ich die wohl wieder an ihren rechtmäßigen Platz." Sie hielt die Waffe in der Hand, als wäre sie aus Brennnessel gemacht. "Und lasse euch mal alleine." Ihr Zwinkern entging mir nicht.Ich atmete die angestaute Luft aus. Das war gerade nochmal gutgegangen.
Isaac, schoss es mir in den Kopf. Eilig öffnete ich die Tür. Theas Mitbewohner krabbelte aus seinem Versteck. "Für solche Sachen bin ich echt nicht gemacht", murmelte er mürrisch und zog gerade noch rechtzeitig den Stick aus dem Computer, bevor Elenor ihn sehen konnte.
Erwartungsvoll blickte sie auf den hell erleuchteten Bildschirm. Sie sah schön aus, das konnte ich nicht leugnen. Und dieser bestimmte Drang in mir war noch immer nicht ganz verschwunden."Ich bin fertig."
"Schnell", drängte ich, um womöglich anderen Überraschungen nicht mehr begegnen zu müssen.
Er öffnete die Akte und ich konnte sehen, wie Elenors Augen vor Hoffnung leuchteten und ihren Glanz verloren, als nur eine einzige Nummer auftauchte. Eine Nummer für diese Tortur?
Trotzdem etwas. Auch Elenor hatte sich etwas mehr erhofft. Eine Adresse vielleicht. Man, das wäre fantastisch gewesen!Sie zog ein Blatt aus einem Stapel und schrieb die Nummer ab. Ihre Hände zitterten immer noch und sie überprüfte die Nummer mehrere Male.
Ich konnte nicht genau verstehen, warum ich mich auf einmal schämte, den Inhalt, egal wie klein er auch war, auf einem Stick zu haben. Elenor liebte ihren Vater. Und hatte keine Ahnung davon, dass er ein mieses Schwein war. Für diese Nummer, von diesem Mistkerl, hatte sie ihre Tante und Tina belügen müssen. Und sie wusste nicht einmal, dass ihr Vater diese Mühe nicht wert war."Und jetzt lasst uns von hier verschwinden." Isaac war der erste, der draußen war. Ich war ihm dankbar für die Hilfe und wusste, ich müsste mich irgendwie revanchieren.
Die Fahrt zurück zur Gala verbrachten wir schweigend. Niemand von uns wusste bis jetzt, ob unsere Mission ein Erfolg, oder Misserfolg war.Elenor
"Da bist du ja, Elenor. Dominic hat euch schon gesucht." Natürlich hatte er das. "Wir waren bei der Brücke", erklärte Evan, der jetzt im hellerleuchtenden Raum wieder so verboten gut aussah, dass ich bei dem Gedanken, ihn einfach geküsst zu haben, beinahe rot anlief. "Du hast eine ganz tolle Rede verpasst", lobte meine Tante Lydia. Das konnte ich mir kaum vorstellen.
Der restliche Abend wurde damit gefüllt, dass meine Tante sich mit jedem unterhielt und ich stumm daneben saß und zwei Gläser teuren Sekt trank. Nur ganz schwer hielt ich das Verlangen aus, nicht einfach aus dem Saal zu stürmen und die Nummer zu wählen, die mich meinem Vater wieder näherbringen könnte.
Unaufhörlich wippte ich mit meinem Fuß unter dem Tisch und hörte auch nicht damit auf, als ich die Hand meiner Tante auf meinem Oberschenkel spürte. Ich wusste, es machte sie nervös. Aber ich war nicht in der Lage dazu, aufzuhören. Es war viel zu viel passiert.
Endlich, nach einer halben Ewigkeit, fingen die ersten Gäste an, sich zu verabschieden und auch meine Tante war unter ihnen. Auch sie wirkte etwas müde und hielt das Abschiedsgespräch mit Lydia überraschend kurz.
Tristan drückte mir zum Abschied einen Kuss auf die Wange, dabei hatten wir uns gerade einmal fünf Minuten unterhalten. Naja, ehrlich gesagt, hatte nur er gesprochen.Erst als er sich abwandte, wischte ich mir über die Wange. Ein angemessenes Händeschütteln hätte mir gereicht. Aber ich konnte mir gut vorstellen, dass auch er dazu gedrängt wurde, sich endlich eine wohlhabende Partnerin zu suchen, die für die Familie als angemessen galt.
An der Wand lehnend, entdeckte ich Evan, der ein Auge auf jeden warf, der sich von mir verabschiedete. Das Adrenalin, das ich durch den Einbruch verspürt hatte, war beinahe verflogen. Trotzdem ließ mich die Angst, doch noch ertappt zu werden, irgendwie immer noch nicht los. Was ich heute Abend getan hatte, war beinahe spannender und nervenzerrender gewesen, als jede andere Herausforderung, der ich mich bisher stellen musste. Und ich hatte mich dieser gemeinsam mit meinem Bodyguard gestellt, den ich einfach geküsst hatte. Nie im Leben hätte ich mich für so mutig gehalten. Schon gar nicht, da es mein erster Kuss gewesen war.
Ein Kuss aus Panik entlarvt zu werden. Meinen ersten Kuss hatte ich mir definitiv anders vorgestellt. Vor allem mit jemand anderem.
Ob es mir gefallen hatte? Ich wusste es nicht genau. Der Kuss war viel zu schnell vorbei gewesen. Doch bei jedem Blick, den ich unauffällig auf Evans Lippen warf, wollte ich es gleich noch einmal ausprobieren."Gute Nacht. Ich muss morgen wieder früh an die Arbeit", erklärte meine Tante und verschwand in Richtung ihres Schlafzimmers. Auch ich nickte den beiden Männern in Anzügen zu und verschwand rasch in meinem Zimmer. Mit zitternden Händen öffnete ich den Reißverschluss meiner kleinen Umhängetasche und zog den Papierfetzen heraus. Ich hatte so schnell geschrieben, dass ich die Nummern erst entziffern musste.
Ich war schrecklich nervös. Was, wenn ich wirklich die Stimme meines Vaters hören würde? Nach so vielen Jahren Funkstille. Würde er gleich auflegen, sobald er meine Stimme erkannte? Ich konnte es nur herausfinden, wenn ich mich traute, die Nummer zu wählen. Meine Finger bebten so stark, dass ich das Handy beinahe fallen ließ. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis ich die vollständige Nummer getippt hatte. Noch einmal atmete ich tief durch und drückte dann auf das grüne Anrufsymbol. Mein Herz schlug mir bis zum Hals und ich wartete auf das allbekannte Tuten.
"Die von Ihnen gewählte Rufnummer ist nicht vergeben." Ich atmete stockend aus. Das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein!
Ich wählte die Nummer erneut.
"Die von Ihnen gewählte Rufnummer ist nicht vergeben."Bittere Enttäuschung erfüllte meinen ganzen Körper. Warum Dad? Warum? Ich vergrub das Gesicht in meinen Händen und versuchte die Tränen zurückzuhalten, die die Enttäuschung mit sich brachte.
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Revenge - Für das Licht in der Dunkelheit
Mystery / ThrillerBAND 1 Seine Schwester entführt von dem meist gejagten Verbrecher Amerikas. Seine Eltern vor seinen Augen ermordet. Evan will nur noch eins: Seine Schwester aus den Fängen der Dunkelheit befreien und Rache nehmen. Er hat nur eine Chance. Doch wird e...