Kapitel 27

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"Evan! Schau mal! Dort auf der Wiese sind noch ganz viele davon!" Von einem Ohr bis zum anderen strahlend, streckte mir meine kleine Schwester ein Gänseblümchen entgegen. Ich nahm es ihr aus der Hand und steckte es ihr in das hellbraune Haar. Kichernd ließ sie sich anschließend auf die Wiese neben mich fallen. Sie war immer so fröhlich. Wenn sie einmal weinte, trug sie schneller wieder ein Lächeln auf den Lippen, als jedes andere Kind. Auf jedem Schulfoto strahlte sie am meisten und stahl jedem anderen Kind die Show. Sie war mein Licht, wenn die Verantwortung, die mir mein Vater übertrug, mich zu erdrücken versuchte. Sie zu verlieren, würde mir das Herz rausreißen.

Sie lehnte sich an mich und ich legte meinen Arm um sie. Sie spielte mit dem Saum ihres mit Blumen besticktem Lieblingskleides, das sie fast immer trug, wenn es das Wetter erlaubte und ich wusste, sie hatte etwas auf dem Herzen.

"Warum haben Dad und du heute gestritten?" Ich hatte gehofft, sie hätte davon nichts mitbekommen. Aber das war ein naiver Gedanke gewesen. Immerhin lagen unsere Zimmer direkt nebeneinander. Und ich, so dämlich wie ich war, konnte auch meine Stimme nicht beherrschen. Es war ein zu schwieriges Thema, um sie damit zu belasten. Und so sehr ich mir auch wünschte, ich könnte ihr alles erzählen, konnte ich es nicht.

"Weißt du, Lou, Dad und ich haben manchmal Meinungsverschiedenheiten, weil wir anderer Meinung über gewisse Dinge sind."
Sie schaute zu mir auf. "Welche Dinge?" Sie war viel zu schlau, viel schlauer als ich, als sich damit zufrieden zu geben. "Dad will, dass ich die Zukunft habe, die er sich für mich vorgestellt hat."
"Und du?" Was sollte ich ihr sagen? Dass ich Dads Firma nicht übernehmen wollte und so nicht immer bei ihr sein könnte? Dass ich seit ich denken konnte, mir nichts Anderes wünschte, als endlich mal durchatmen zu können, weil mich Dads drillende Art, mich in meine Zukunft zu schubsen, erdrückte?

Innerlich war ich eine zerstreute Person, die zu viele Kampfsportarten für ihr Alter beherrschte und selbst nicht wusste, wie ihre Zukunft aussehen würde. Aber ich hatte Lou. Für ihre Zukunft würde ich kämpfen, auch wenn das bedeutete, dass ich die annehmen musste, die mein Vater für mich vorbestimmt hatte.

"Ich will Zeit mit meiner kleinen Schwester verbringen", sagte ich nach kurzem Schweigen, während wir uns beide nur angeschaut hatten. Dann ging ich auf sie los und kitzelte sie so lange, bis ihr die Luft ausblieb. Ihr Lachen, das so echt klang wie kein anderes, machte für diesen Moment auch meine Welt wieder heil.

"Mom! Wir sind zu Hause!" Meine Mutter konnte alles tragen. Sogar mit wild hochgebundenen Haaren und einer Schürze sah sie immer noch elegant aus. "Hattet ihr eine schöne Zeit?" Lou rannte auf sie zu und umarmte sie.
"Ja! Wir haben Gänseblümchen gesammelt und Evan hat mir gezeigt, wie man einen Kranz daraus macht", erzählte sie immer noch ganz aufgeregt und nahm den Kranz von ihrem Kopf, um ihn Mom aufzusetzen. Mom schaute mich überrascht über mein neues Talent an. Wenn man mich anschaute, dachte man nicht an einen netten Kerl, der Blumenkränze bastelte, sondern an jemanden, der dazu in der Lage war, Böses zu tun. Doch bei Lou war ich ganz anders. Und das wusste meine Mom.
Auch ich schloss sie in meine Arme und drückte ihr einen Kuss auf die Wange.
"Lou, Schätzchen, geh dir doch bitte die Hände waschen, wir essen gleich." Lou zog einen Schmollmund, ging dann aber doch in Richtung Badezimmer.

"Was ist mit der Frau passiert, die Dad eingestellt hat?", fragte ich, als ich sah, wie Mom den Kochlöffel schwang. "Das hatte dein Dad nicht mit mir abgesprochen. Nur weil wir ein bisschen mehr Geld haben, als die anderen, heißt das nicht, dass ich  automatisch nicht mehr in der Lage dazu bin, für meine Familie zu kochen. Das ist immer noch meine Aufgabe." Genau dafür liebte ich meine Mom. Sie war sich für nichts zu schade und machte sich nichts aus dem Geld. Sie war ganz anders als Dad, der sich sogar den Koffer von seinem Angestellten in den Kofferraum schleppen ließ. Sie packte selbst mit an und war jederzeit dazu bereit, sich gegen meinen Vater zu stellen und schaffte es sogar, ihn umzustimmen.

"Ich wollte mit dir über den Streit mit deinem Vater reden." Ich nahm mir ein Glas aus dem Schrank, füllte es mit Wasser und exte den Inhalt. Mein Mund war auf einmal schrecklich trocken. "Tut mir leid, Mom. Aber wenn er immer wieder damit anfängt mich dazu zu zwingen, auf alle seine Geschäftsmeetings mitzugehen, bringt er mich immer fast zum Platzen."

Ich hatte meinen Vater nie ins Gesicht gesagt, dass ich nichts mit seiner Firma zu tun haben wollte, hatte gedacht, später würde sich sowieso alles anders ergeben. Aber das hatte es nicht. Ich wollte ihn nicht enttäuschen. Hatte immer das getan, was er von mir verlangte, mich sogar damit abgefunden, ihm wenigstens so lange unter die Arme zu greifen, bis er jemand anderes fand. Doch mein Vater würde niemand anderen akzeptieren. Wenn ich das Thema anschnitt, ließ er mich nicht ausreden.

"Du weißt, er ist dein Dickkopf. Aber ich will, dass du weißt, dass ich dich in deiner Entscheidung unterstützen werde, egal wofür du dich letztendlich entscheidest. Ich wollte nie, dass meine Kinder später etwas tun müssen, für das sie nicht brennen. Evan, ich will nur, dass du glücklich bist." Sie strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. "Danke, Mom." Das zu hören war wie Medizin für meine Seele. Ich könnte meiner Mom nie genug dafür danken, dass sie sich immer für mich einsetzte und an mich glaubte.

"Du musst es ihm sagen, Evan. Sag es deinem Vater ein für alle Mal. Ich weiß, du willst ihn nicht enttäuschen, aber du kannst nicht dein ganzes Leben jemand sein, der du nicht sein willst. Sag ihm, du wirst seine Firma nicht übernehmen. Du darfst nicht nachgeben. Kämpfe für deine Träume." Ich zog sie einfach in meine Arme und drückte sie so fest, dass kein Dank mehr nötig war. Sie konnte nicht ahnen, wie viel mir ihre Worte bedeuteten.

"Und wer soll die Firma dann führen?", flüsterte ich. "Der beste Arbeiter deines Vaters. Du weißt, dass dein Vater niemandem vertraut, aber dieser junge Mann könnte der Firma wirklich guttun. Früher oder später wird dein Vater das auch einsehen." Liebevoll, so wie meine Mutter war, drückte sie mir einen Kuss auf die Wange.
"Dad hat mich gebeten, eine Rede für sein Meeting zu schreiben. Diesen Gefallen werde ich ihm noch tun, weil ich weiß, wie viel es ihm bedeutet. Danach ziehe ich den Schlussstrich." Es war ein Versprechen an mich selbst.

Erwacht aus meinen Erinnerungen, klebte mein Blick auf dem Foto von Lou. Ich war nie dazu gekommen, den Schlussstrich zu ziehen. Todd Wesley hatte einen Schlussstrich gezogen, der mir nie wieder die Chance geben würde, meinem Vater gegenüber zu treten, oder meiner Mutter für ihre ermutigenden Worte zu danken. Ich verstaute das Bild in der Innentasche meines Jacketts und griff nach der Krawatte. Lange hatte ich auf die Chance gewartet, Wesley für alles büßen zu lassen. Mit dieser Akte auf dem Computer, war es mir vielleicht endlich möglich, mir mein Licht zurückzuholen und meine Rache auszuführen.

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Ein Einblick in Evans Leben vor Todd Wesley. Im nächsten Kapitel geht es dann mit der "Passwort-Mission" endlich los und auch Elenor muss über ihren Schatten springen. Mal sehen, ob ihr Plan funktioniert oder doch scheitert!;)

Revenge - Für das Licht in der Dunkelheit Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt