Kapitel 8

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Mein Blick glitt von der braunen Mähne bis zu den stummen Lippen. Elenor schaute mich an, als hätte sie einen Geist gesehen. Sie hatte doch nicht gesehen, wie ich den Brief eingesteckt hatte, oder? Wie lange stand sie hier wohl schon, stillschweigend und mich beobachtend? Ein Gefühl von Panik ließ meine Beine kribbeln.

"Ich warte hier auf Ihre Tante", sagte ich viel selbstsicherer als ich mich in diesem Moment fühlte. Ich musterte sie genauer, in der Hoffnung von ihrer Körpersprache zu erfahren, was sie dachte und ob sie wusste, dass ich log. Sie trug eine Bluse und eine schwarze Jeans. Viel zu schick für einen Tag Zuhause.

"Sie müssen Elenor sein, richtig?", fragte ich einfach weiter. Auch sie schien sich nicht zurückzuhalten. Ohne jegliche Hemmungen ließ sie ihren Blick über meinen Körper schweifen. Ertappt färbten sich ihre Wangen rosa. Plötzlich schwebte mir ein ganz anderer Gedanke vor. Sie um den Finger zu wickeln könnte vielleicht doch leichter werden, als gedacht. Ich wusste auch schon genau wie. Gezwungenermaßen setzte ich mein unwiderstehlichstes, charmantes Lächeln auf, doch quittierte dafür nur einen seltsamen, erschrockenen Blick von ihr. Beinahe fluchtartig verließ sie den Raum und ließ mich stehen wie ein Kerl, der gerade eine Abfuhr ertragen musste. Hatte ich ihr etwa Angst gemacht und sie jetzt verschreckt?

Ich verschwendete keinen weiteren Gedanken mehr daran und konzentrierte mich auf das, wofür ich eigentlich dieses Risiko auf mich genommen hatte. Um sie könnte ich mich auch noch später kümmern. Ich zog mein Smartphone aus der Hosentasche, das ich nur zur Sicherheit direkt nach der Ermordung meiner Eltern gewechselt hatte, nahm den Brief zur Hand, öffnete ihn und schoss ein Foto davon. Ich steckte den Brief anschließend wieder dorthin zurück, wo ich ihn gefunden hatte, und wollte nur noch so schnell wie möglich auf mein Zimmer verschwinden.

Ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen, als mir Mrs Wesley auf dem Flur entgegenkam. "Mr. Thomson. Sie sind ja immer noch hier." Ich nickte. "Ich wollte mich nur noch einmal alleine umschauen. Ich hoffe, das ist Ihnen recht." Ich ließ meine Hände in den Hosentaschen verschwinden. "Natürlich", entgegnete sie mir, nickte mir noch einmal freundlich zu und verschwand dann wieder in ihrem Arbeitszimmer. Mit hastigen Schritten verschwand auch ich in mein neues Zimmer und konnte die Neugierde die sich langsam in mir aufgebaut hatte, nicht mehr ertragen.

Ich fischte mein Smartphone aus der Hosentasche, entsperrte es und fand in meiner Galerie, das erste Foto das ich geschossen hatte. Innerlich hoffte ich, dass es gut zu erkennen war und ich nicht vor lauter Aufregung gezittert hatte und es jetzt verwischt war. Genauso überrascht wie vorhin, versuchte ich die krakelige Handschrift zu entziffern. Jeder Brief der jemals bei meinem Vater eingegangen war, war auf dem Computer geschrieben worden, doch dieser hier nicht. Es waren nur vier Zeilen.

Ich werde mich darum kümmern. Keine Sorge, Elenor wird schnell die Lust an dieser Schule verlieren, dafür sorge ich. Hast du etwas von Wesley gehört, Karen? Mein Anliegen wäre wirklich dringend.

Kein Name. Keine Grüße. Und ein verdammt unnützer Brief. Warum zum Teufel, zog sie eine solch geheimnisvolle Nummer durch, nur wegen eines dämlichen Briefs? Hatte sie etwa so eine große Angst davor, dass ihre Nichte herausfinden könnte, was eine falsche Schlange sie doch eigentlich war? Ich schmetterte das elektrische Gerät an die Wand und vergrub mein Gesicht in den Händen.

Wenn selbst dieser geheimnisvolle, grauhaarige Mann, der es für nötig hielt, an dem wohl trübsten Tag eine Sonnenbrille zu tragen, schon nicht wusste, wo Wesley steckte, wusste es dann Karen überhaupt? War das alles hier nur Zeitverschwendung? Zeit, die meine Schwester nicht hatte. Nicht aufgeben. Nicht aufgeben. Ich zog an einer Strähne und ballte die Hände auf meinem Kopf zu Fäusten. Ich durfte nicht durchdrehen. Nicht wenn es um Lou ging. Verdammt, reiß dich zusammen, Evan! Die Stimme meines Vaters hallte in meinem Kopf. Ich lief zur anderen Ecke des Raumes und hob das Smartphone auf, welches außer einem kleinen Riss auf dem Display, keine weiteren Schäden davon zu tragen schien. Ich löschte das Bild und versuchte die Enttäuschung herunterzuschlucken. Irgendjemand musste hier wissen, wo sich Wesley aufhielt. Ich wusste wie angsteinflößend ich sein konnte. Wenn mein eigentlicher Plan nicht funktionierte, musste es der andere.

Revenge - Für das Licht in der Dunkelheit Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt