Kapitel 4

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Ich erkannte mich in dem geliehenen Anzug von Theas Mitbewohner kaum wieder. Er saß wie angegossen und das, obwohl ich um einiges muskulöser als Isaac war. Das letzte Mal, als ich einen Anzug getragen hatte, war bei einem von Vaters Geschäftsessen gewesen. Diese waren wohl das Einzige, das ich nicht vermissen würde. All diese verfälschten Persönlichkeiten und deren schlechten Humor, bei dem ich mich am liebsten jedes Mal in die Küche verkrochen hätte.

Diese Leute verstanden nur etwas von Geschäften und Geld, jede Menge Geld, sobald es um andere Dinge ging, wirkten sie wie ausgewechselt. Nicht nur einmal hatte ich unpassende, zum Teil absichtlich provozierende Bemerkungen fallen lassen, wofür ich immer einen Schlag in die linke Seite ertragen musste. Aber die Gesichter, die sie darauf gezogen hatten, waren es mir wert gewesen.

"Und? Passt er?" Neugierig spähte Thea durch den Türspalt, den ich ausversehen offengelassen hatte. "He, du siehst aus wie ein Mann." Gespielt gekränkt fasste ich mir an die Brust. "Ich bin ein Mann."
Mit zwei großen Schritten war sie bei mir und zupfte an meinem Kragen herum, bis dieser ihrer Meinung nach richtiglag. Thea war nicht nur wenn es um die Verteidigung von Menschen ging, die Nummer eins, sondern auch, wenn es sich um Mode handelte. Sie sah einfach immer gut aus, in dem was sie trug. Sie strahlte vor Selbstbewusstsein. In jedem Kleidungsstück.

"Mit den breiten Schultern siehst du wirklich aus, als wärst du ein Bodyguard." Sanft strich sie über den schwarzen Stoff und entfernte einige der Fussel.
"Warte hier, ich hole meine Fusselrolle." Rasch griff ich nach ihrem Handgelenk, um sie aufzuhalten. "Das reicht schon so, Thea. Das Vorstellungsgespräch ist sowieso erst morgen." Thea war ein Genie. Nur einen Anruf hatte es sie gebraucht, um mir ein Vorstellunggespräch klarzumachen. Wie auch immer sie das angestellt hatte. Wie auch Rider war sie in ihrem Gebiet unschlagbar. Darum hatte ich sie immer beneidet. Sie wusste ganz genau was sie wollte, und sie bekam es auch.

"Ich habe Isaac schon angerufen, er erledigt das mit deinen Personalien. Merke dir, ab Morgen bist du nicht mehr Evan Standlers, sondern Evan Thomson."
Es war seltsam. Ich wollte meinen Namen nicht aufgeben, doch für diese Mission musste ich es. Und es ging mir gewaltig gegen den Strich. Wenigstens war mir mein Vorname erhalten geblieben und ich konnte der peinlichen Situation entgehen, nicht zu reagieren, wenn mich jemand ansprach.

"Danke, Thea. Ich weiß deine Hilfe zu schätzen." Besorgt musterte sie mich. Sie behauptete zwar jedes Mal, sie wäre nur da, um mich zu verteidigen, aber ich wusste, dass ihr mehr an mir lag. Wir kannten uns immerhin schon seit fünf Jahren. Genauso wie Rider, war sie nicht die Talentierteste wenn es darum ging, Gefühle zu zeigen und schon gar nicht, sie auszusprechen. Aber das war okay. Vor Lous Entführung war es mir genau so ergangen und meine Schwester war auch wirklich die Einzige, die mehr von mir wusste und kannte, als dass was ich vorgab zu sein.

"Was wirst du tun, wenn du sie wirklich findest, Evan? Sie ist erst neum und du weißt nicht was ihr zugestoßen ist. Wie wirst du vorgehen?"
"Zehn", korrigierte ich sie. Mittlerweile war Lou schon zehn.

Wie sollte ich nach Theas Meinung denn vorgehen? Es war eine von diesen Fragen vor denen ich am meisten Schiss hatte. Was würde ich tun? Was konnte ich noch tun? Ich wollte jedem das Genick brechen, der an der Entführung meiner Schwester beteiligt war, aber ich wusste auch, dass ich das niemals schaffen könnte.

"Ich weiß es nicht, Thea. Noch nicht. Meine Priorität ist es, sie erst mal von dort, wo sie auch immer sein mag, lebendig fort zu bekommen und mich für den Mord an meinen Eltern zu rächen. Danach, sehe ich weiter."

Sie nickte stumm. "Wenn du Hilfe brauchst, kannst du zu mir kommen, aber vergiss nicht, sobald du einmal in diesem Haus bist, bist du auf dich alleine gestellt."
Es war mir bewusst und ich würde die Rettung meiner Schwester sicherlich nicht mit einer waghalsigen Aktion gefährden. Ich konnte einiges riskieren, aber nicht, dass ich aufflog. Niemals.

Revenge - Für das Licht in der Dunkelheit Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt