Kapitel 1

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5 Monate später

Ich schlug auf den Boxsack ein, ohne Rücksicht auf meine schmerzenden Glieder zu nehmen. Das Ziehen, das mir die Arme hinaufschoss war angenehm. Ich musste nur an das Gesicht des Mannes denken, der meine Schwester entführt hatte, um mich vollkommen auszupowern. Bei jedem Schlag dachte ich an sein Gesicht. Wie ich diesem Mistkerl die Visage polierte. Erst nach weiteren dreißig Minuten schaffte ich es, die Boxhandschuhe von meinen Händen zu streifen. Der Schweiß rann mir den Nacken hinunter und ich ließ mich vollkommen fertig auf das kleine Bett fallen. Ich griff in die Hosentasche meiner Sporthose und zog den wohl wertvollsten Gegenstand für mich heraus.

Mit Bedacht schob ich das kleine Foto zwischen meinen Fingern hin und her. Es war das Einzige, was ich noch besaß. Das Einzige, was mich an sie erinnerte. Während es mir die letzten Monate Trost gespendet hatte, tat es jetzt nur noch weh. Verdammt weh. Jedes Mal wenn ich es anschaute, wollte ich den nächst besten Gegenstand in meiner Nähe zerschlagen, nur um mich danach besser zu fühlen. Zu Riders Unglück, kam es auch meist dazu. Die Fragen quälten mich. War sie noch am Leben? Was taten sie ihr an? So viele Monate und kein Hinweis, wohin er sie verschleppt hatte.

"Evan, du kannst nicht ewig um sie trauern. Es tut mir leid, aber es wird dich noch kaputt machen. Das weißt du ganz genau." Ich hatte Rider gar nicht kommen hören, doch da stand er und kam mit lässigen Schritten auf mich zu.

"Bullshit. Es hat mich schon längst kaputt gemacht!", schmetterte ich ihm entgegen. Er war ein guter Freund und ich war ihm dankbar, dass er mich in dieser schweren Zeit aufgenommen hatte, aber in diesem Moment wünschte ich mir nichts sehnlicher, als ihm eine dafür zu verpassen, dass er mal wieder den Aufpasser spielte. Er wusste, wie sehr ich es hasste, wenn er mich bevormundete. Vor allem wenn er mir ausreden wollte, weiter nach Lou zu suchen. Ich war erwachsen. Zwanzig und bereit die Welt niederzubrennen, nur um meine kleine Schwester zurückzubekommen.

"Sie haben uns den Beweis geschickt, dass sie tot ist." Seine Worte schmetterten mir entgegen, wie als zielte er mit einer Waffe direkt auf mein Herz und als dauerte es nicht mehr lange, bis er wirklich abdrückte. Das Foto würde ich niemals vergessen. Lou, leblos auf dem Boden, doch keine Einstichwunde, keine Schusswunde. Keine Würgemale am Hals. Sie hätten sie genauso gut beim Schlafen fotografieren können. Vielleicht redete ich es mir nur ein und es war die Hoffnung, die es in mir doch noch gab und es schaffte, nicht den Glauben daran zu verlieren.

"Und du glaubst ihnen das einfach, nicht wahr? Diese Leute sind Profis. Sie könnten alles fälschen." Meine Stimme war eisig und ich wusste wie verbittert ich mich anhören musste.

"Ja, genau deswegen solltest du dich von ihnen fernhalten. Die sind eine Nummer zu groß. Selbst für dich." Riders Worte prallten an mir ab wie ein Ball, der mich aber dennoch mitten in die Magengrube traf. Ich hatte nur einen Gedanken und dieser war, Lou zurückzuholen, und das könnte er mir nicht ausreden. Niemals.

"Erwartest du wirklich, dass ich meine kleine Schwester im Stich lasse?" Ich kam mir vor wie ein Roboter, programmiert darauf, jeden Tag die gleichen Worte von mir zugeben. Wie oft hatte ich dieses Gespräch schon mit Rider geführt. Er hatte keine Schwester. Seine Familie hatte ihn im Stich gelassen, als er noch ein Baby war. Er wusste nicht wie es war, jemanden zu verlieren, den er wirklich liebte. Er war ein loyaler Kerl, aber sobald das Thema Gefühle angesprochen wurde, wirkte er wie ausgewechselt. Wie ein Stein.

"Du musst dein Leben weiterleben, Evan. Sie kommt nicht zurück. Ich weiß, du willst dich rächen, aber dieser Racheversuch wird tödlich für dich enden und das wissen wir beide." Wütend sprang ich von dem kleinen unbequemen Bett auf, das seit meiner Ankunft mir gehörte.

"Ich werde mich rächen und meine Schwester werde ich mir auch zurückholen! Mir egal, ob ich dabei krepiere!" Meine Worte klangen so stumpf, so abgehärtet und gleichzeitig  erfüllt von Verzweiflung. Ich hörte mich an wie eine Killermaschine, die nichts anderes im Sinn hatte, als alle die, die an der Ermordung meiner Eltern und der Entführung meiner Schwester beteiligt waren, zu erledigen. Und das war ich auch. Bereit zu töten.

"Du suchst jetzt schon seit fünf Monaten nach dem Mann und er ist wie von der Bildfläche verschwunden. Mal davon abgesehen, dass wenn du ihn finden würdest, er mehrere hundert Männer zu seinem Schutz zur Verfügung hätte und du niemals eine Chance gegen ihn haben wirst. Also, wie verdammt, willst du ihn umbringen?"

Gefährlich nahe trat ich an Rider heran, der die Bedrohung witterte und einen Schritt zurückmachte. Er konnte spüren, wie meine geballte Faust zuckte.

"Ich werde es schaffen, mit oder ohne deine Hilfe", zischte ich. "Gut, aber bei diesem Selbstmordkommando mache ich nicht mit." Ich hatte keine andere Antwort von Rider erwartet. Ich wusste sofort, dass er nicht mitmachen würde. Er war nicht so lebensmüde wie ich. Ich hatte nur noch einen Menschen für den ich kämpfen wollte. Lou hatte mehr verdient, als ein Leben in Angst und Schrecken. Tief im Inneren wusste ich, dass sie noch lebte, denn sie wusste etwas, das mein Vater nur ihr und mir anvertraut hatte. Vielleicht hatten sie mich genau deshalb am Leben gelassen. Es gab einen Grund, warum sie meine Eltern ermordet und Lou nicht auf der Stelle kalt gemacht, sondern mitgenommen hatten. Ich wusste, was ich zu tun hatte, denn mein Vater hatte mich nicht umsonst all die Jahre darauf vorbereitet.

Damals dachte ich, er übertrieb mit den Boxkämpfen und Verteidigungskursen, doch jetzt wusste ich, dass er immer Schlimmes geahnt hatte.

"Danke, für deine Gastfreundlichkeit, Rider. Ich packe meine Sache und bin in einer Stunde verschwunden." Rider setzte an, um etwas zu sagen, das mich aufhalten könnte, doch er hielt inne. Er wusste, dass seine Worte nichts bringen würden. Ich konnte niemanden gebrauchen, der nicht hinter dem stand, was ich tun wollte. Was ich bereit war, aufzugeben.

Revenge - Für das Licht in der Dunkelheit Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt