Kapitel 21

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Elenor

Ich schloss mein Schließfach ab. Ich war edleres gewohnt und fühlte mich trotzdem wohler neben dem abgeschabten Lack als neben den schweineteuren Schränken, in denen ich zu Hause meine Bücher aufbewahrte. Hier fühlte ich mich normal. Nicht reich und privilegiert. Vielleicht von Menschen umgeben, die es seltsam fanden, dass ich nicht sprach und mich verurteilten. Aber wenigstens nicht das scheinheilige Grinsen, dass die Kollegen meiner Tante immer aufsetzten. Ich war hier umgeben von Hormonen und der Realität und ich könnte mir nichts Schöneres vorstellen. In all den Jahren, behütet und versteckt, war das meine Freiheit. Meine Chance, endlich herauszufinden, was ich konnte und was nicht. Ich war bereit Fehler zu begehen, neue Leute kennenzulernen und auch bereit für Herzschmerz.

Ich wusste, dass mir zu Hause ein ernsthaftes Gespräch mit meiner Tante blühte, aber ich war ihr so unendlich dankbar, dass ich bereit war, meine Strafe von zwei Wochen Hausarrest ohne Diskussion anzunehmen. Das Versprechen, das ich Evan gegeben hatte, musste ich auch noch einlösen. Ich schuldete ihm etwas, auch wenn ich immer noch misstrauisch ihm gegenüber war. Heutzutage gab es niemanden, den man nicht mit ein wenig Mühe im Internet finden konnte, aber bei ihm war da nichts. Bella, ich hatte sie erst heute kennengelernt, winkte mir zu. Sie war auch neu, teilte zwar die Schweigsamkeit nicht mit mir, aber hatte wenigstens keine schiefen Blicke auf mein Notizheft geworfen.

Louis wartete schon draußen auf mich. Neben ihm auf dem Beifahrersitz saß Evan. Ich war froh, dass er mich nicht wie ein Kleinkind im Schuldgebäude abholte. Sonst hätten mich sicherlich morgen alle nur nach seiner Nummer gefragt. Ich strahlte die beiden Männer an, als wäre das der beste Tag meines Lebens gewesen. "Die Schule scheint Ihnen gut zu tun, Elenor!" Und wie recht Louis doch hatte. "Das war sicherlich geplant, oder? Das habt doch ihr beiden ausgefressen." Evan lachte herzlich. So herzlich, dass es mir eine Gänsehaut verschaffte. Hatte ich ihn jemals wirklich Lachen gehört? Mit Sicherheit nicht. Das angenehm Raue wäre mir bestimmt aufgefallen. "Erwischt", gab Evan zu. "Wurde aber auch langsam Zeit." Ich machte die Geste mit meinen Fingern, als würde ich das Radio aufdrehen, die Louis schon lange kannte, und die ich beinahe immer machte, wenn er durch den Spiegel zu mir schaute. Er drehte das Radio auf. Es war ein langsamer, schöner Song, der zu mir hindurchdrang. Ich schloss meine Augen und lehnte mich zurück. Ich genoss das Gefühl der Schwerelosigkeit.

"Du hättest Dominics Gesicht sehen sollen!" Ich bekam nicht viel mit von dem Gespräch das die beiden Männer führten. Die ganze Aufregung hatte mich müde gemacht und ich wachte erst auf, als jemand sanft an meiner Schulter rüttelte. Hellwach schlug ich die Augen auf und blickte in Evans. Er half mir beim Aussteigen und lief dicht hinter mir. Meine Tante erwartete mich schon in ihrem Büro. "Du kennst unseren Deal", flüsterte mir Evan zu, bevor er in Richtung der Gästezimmer verschwand.

Ich klopfte an und bekam ein leises: "Herein."
Meine Tante lies ihren Stift sinken und wies auf den Stuhl gegenüber von ihr. Sie wirkte nicht mehr sauer, aber so genau konnte ich das nie wissen. Im Gegensatz zu ihr war ich ein offenes Buch. "Du weißt, dass es nicht in Ordnung war, dass du einfach verschwunden bist, ohne Bescheid zu sagen." Ich nickte. Sie hatte recht, aber eine andere Möglichkeit hatte es nicht gegeben. Sie hätte mich nicht gehen lassen. "Du kennst deine Strafe schon. Sollte das noch einmal vorkommen, wirst du wieder zu Hause unterrichtet." Ich nickte erneut. Sie atmete laut aus und sagte nichts mehr. Ich war überrascht, dass nicht noch mehr kam und erhob mich.

Bevor ich allerdings das Büro verlassen konnte, räusperte sie sich. "Sind sie auch alle nett zu dir? Hast du schon Freunde gefunden?" Verwundert kam ich ihr wieder einige Schritte näher. Ich griff nach einem nicht beschrifteten Zettel und sie reichte mir ihren Kugelschreiber.
Sie sind alle nett zu mir. Aber das mit den Freunden geht nicht so leicht.
"Okay. Das verstehe ich." In ihrem Blick lag etwas Weiches. Etwas, das ich das letzte Mal nach dem Tod meiner Mutter gesehen hatte. In ihrem Blick lag auch die Hoffnung. Die Hoffnung, dass mir diese Schule meine Stimme zurückbringen würde.

Revenge - Für das Licht in der Dunkelheit Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt