05 | Raphael

3.5K 88 16
                                    

Mein Blick traf auf die dunklen Augen des Unbekannten, die im Mondschein funkelten und mich intensiv beobachteten. Sein Blick war unergründlich. Er schmunzelte und flüsterte sanft: »Du bist vorhin eingeschlafen und dabei mit deinem Kopf an meiner Schulter gelandet. Schlaf einfach weiter, ich bringe dich nur nach drinnen.«

Ein bisschen peinlich war mir das schon, aber ich war viel zu müde um über so etwas nachzudenken. Ich wusste selbst nicht, woher ich dieses Vertrauen nahm, als ich meine Augen tatsächlich wieder schloss und mich an seine Brust kuschelte.

Das Nächste, was ich spürte, war, dass ich auf einem Sofa abgelegt wurde. Sofort verschwand das angenehme Gefühl von Wärme und Geborgenheit, welches ich bis gerade eben noch verspürte. Der Unbekannte strich mir vorsichtig über die Wange und wisperte: »Schlaf gut, Kleine.« Er stand auf. Meine Haut kribbelte leicht an der Stelle, an der er mich berührt hatte. »Gute Nacht«, murmelte ich, schloss meine Augen und hörte nur noch, wie er den Raum verließ, ehe ich erneut einschlief.

Einige Stunden später wachte ich mit höllischen Kopfschmerzen auf. Ich schaute mich um und stellte erschrocken fest, dass ich nicht zuhause in meinem Bett war. Dann realisierte ich jedoch, dass ich auf Alex' Sofa lag. Erleichtert atmete ich aus. Ich dachte an die letzte Nacht zurück. Meine Gedanken kreisten immer wieder um den geheimnisvollen Unbekannten, mit dem ich gestern Abend einige Stunden verbracht hatte.

Nach einigen Minuten entschied ich mich dazu aufzustehen. Ich holte mir ein Glas Wasser sowie eine Aspirin und machte mich anschließend daran Frühstück zuzubereiten. Ich war gerade dabei den letzten Pancake in der Pfanne zu wenden, als auch schon ein gut gelaunter Alex in der Küchentür stand. Wie konnte er nach dem Abend gestern nur so fit sein?

»Guten Morgen Schlafmütze. Riecht echt geil! Bekomme ich auch was ab?« »Selber Schlafmütze. Ja du kannst welche haben. Ich habe genug für uns beide gemacht«, gab ich zurück. »Danke. Du bist die Beste.« »Also vorausgesetzt, du haust nicht wieder rein wie ein Mähdrescher und die Pancakes sind nach drei Minuten weg«, ergänzte ich grinsend. Kurz darauf saß Alex noch immer im Pyjama neben mir am Küchentisch und wir aßen unsere Pancakes.

»Erzähl mal. Was lief da gestern?«, begann Alex das Gespräch. »Wovon redest du?«, fragte ich sichtlich irritiert. Natürlich dachte ich direkt an den Unbekannten von letzter Nacht. Aber ob Alex das im Suff überhaupt mitbekommen hatte? »Na, mit Mr. Camora«, erwiderte er schulterzuckend. »Wer ist das?«, fragte ich erneut, da ich wirklich keine Ahnung hatte, von wem er redete.

»Stellst du dich nur so dumm oder bist du es wirklich? Ey, ich hab das doch gestern auch gemerkt«, stöhnte Alex verzweifelt zwischen zwei Bissen seines Pancakes, »ich rede natürlich von RAF Camora. Raphael. Du kennst ihn doch!« Ich schüttelte unmerklich den Kopf.

»Der Mann, mit dem du gestern auf meine Dachterrasse abgehauen bist und die halbe Nacht verbracht hast«, half mir Alex auf die Sprünge. Jetzt fiel bei mir der Groschen. Der Unbekannte hieß also Raphael und Alex hatte es mitbekommen. »Er hat mir seinen Namen nicht verraten. Da lief gar nichts. Wir haben einfach nur geredet«, antwortete ich bestimmt.

Dass ich diesen Raphael ziemlich attraktiv fand und ihn gerne wiedersehen würde, musste Alex ja nicht wissen. Ich war definitiv nicht die Person, die an so etwas wie Liebe auf den ersten Blick glaubte - und so konnte man das zwischen uns auch auf keinen Fall bezeichnen - aber wir hatten uns gut verstanden und Raphael hatte mich, wie gesagt, auf eine Art und Weise fasziniert, die ich nicht wirklich erklären konnte.

»Das sah aber letzte Nacht etwas anders aus. Ich meine, wie du da in seinen Armen geschlafen hast, als er dich ins Wohnzimmer gebracht hat.« Er hob eine Augenbraue und sah mich mit wissendem Blick an. »Wie gesagt, ich kenne ihn gar nicht wirklich. Er wollte bestimmt nur nett sein.«

»Na dann«, zwinkerte mir mein bester Freund verschwörerisch zu. Ich musste mich zusammenreißen, damit ich ihn nicht mit zu vielen Fragen über Raphael löcherte. Am Ende unseres Gesprächs konnte ich zumindest herausfinden, dass dieser Raphael in Berlin wohnte. Die Stadt, in die ich bald ziehen werde.

Anschließend machte ich mich auf den Weg zur Arbeit. Nachdem ich in der Pommesbude aufgehört hatte, hatte ich einen deutlich besser bezahlten Studentenjob in einem kleinen Bekleidungsgeschäft in der Innenstadt angenommen, der mir obendrein auch etwas mehr Spaß machte. Nur manche Kunden waren eben echt anstrengend.

Ich quatschte zwischendurch immer mal wieder mit meiner besten Freundin Amina, die ebenfalls hier arbeitete, und brachte die hübsche Bosnierin auf den neuesten Stand der Dinge. Natürlich wollte sie jedes Detail über Raphael wissen, als ich ihn erwähnte.

Auch nach dem Feierabend schlich er sich immer wieder in meine Gedanken. Er war irgendwie das komplette Gegenteil von John und den anderen Jungs der 187 Strassenbande, die ich bisher kennengelernt hatte. Raphael wirkte insgesamt viel ruhiger und vernünftiger und schien sich nicht so viel aus seinem Fame zu machen. Er nahm, soweit ich wusste, keine Drogen und war sicher auch nicht der Typ, der nächtelang Party machte oder in diversen Strip-Clubs abhing so wie seine Freunde. Und das machte ihn auch sehr sympathisch.

Aus Neugier suchte ich auf Youtube nach ihm und hörte mir einige seiner Songs an. Seinen Künstlernamen hatte ich mir vom Gespräch mit Alex heute morgen natürlich sofort gemerkt. Zwei, drei ruhigere Lieder von ihm gefielen mir sogar recht gut, auch wenn es insgesamt nicht ganz meinem Geschmack entsprach.

»Raphael«, flüsterte ich seinen schönen Namen leise vor mich hin. Ob ich ihn wohl jemals wiedersehen werde? Ich lebte zwar bald in der gleichen Stadt wie er, aber die Chance ihn unter mehr als drei Millionen Menschen zufällig zu treffen war extrem gering. Zudem hatte ich keinerlei Kontakt zu ihm, da wir keine Nummern ausgetauscht hatten. Alex wollte ich nicht danach fragen, weil ich keine Lust hatte, dass er sich einmischte und ich mir wieder blöde Sprüche von ihm anhören musste.

Ich sollte vielleicht auf meinen Kopf hören, die Begegnung mit Raphael am besten einfach vergessen und das Ganze als zwar nette, aber auch einmalige Begegnung abhaken. Ich würde ihn sowieso nicht wieder sehen. Zumindest versuchte ich mir das einzureden. Aber trotz allem wollte ich tief in meinem Herzen, die Hoffnung nicht aufgeben.

Wird es Sarah schaffen Raphael so einfach zu vergessen? Schließlich hatten die beiden nicht lange und viel miteinander zu tun. Oder werden sie sich eines Tages wiedersehen auch wenn die Wahrscheinlichkeit eher gering ist?

In meiner Wolke | 1raf7Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt