17 | Raben

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Komplett durchnässt standen wir eine Viertelstunde später im Flur meiner Wohnung. Nachdem ich meine Schuhe ausgezogen und meine Jacke aufgehängt hatte, bedeutete ich Raphael mit einer ausladenden Handbewegung mir in mein kleines Wohnzimmer zu folgen. Zögerlich ließ er sich neben mich auf das Sofa fallen. Ich schnappte mir eine Decke, die herumlag, bot Raphael ebenfalls eine an und setzte mich in den Schneidersitz.

Warm eingekuschelt sah ich ihn ernst an. »Ich weiß zwar nicht, was passiert ist, aber ich spüre, dass dich etwas bedrückt«, meinte ich einfühlsam und rückte ein Stück näher an ihn heran. »Du siehst sehr fertig und nicht wirklich gut aus. Ich mache mir Sorgen um dich und will einfach nur wissen, was in dir vorgeht. Verstehst du? Bitte sei nicht so stur. Ich will dir bloß helfen und für dich da sein, wenn du jemanden brauchst.«

Raphael spielte gedankenverloren mit seinen Händen, richtete sich schließlich auf und drehte seinen Kopf in meine Richtung. »Na vielen Dank, sehr nett«, meinte er sarkastisch. Ich verdrehte die Augen. »Du bist übrigens einer der wenigen Menschen, die es wirklich merken, wenn mich etwas bedrückt. Viele kriegen es einfach gar nicht mit. Aber es stimmt schon, ich bin ziemlich kaputt und habe in der letzten Nacht kaum geschlafen, weil ich mir verdammt große Sorgen mache. Gestern habe ich einen Anruf von meiner Mutter bekommen. Mein Opa hatte einen Herzinfarkt und liegt im Krankenhaus. Das ist so ein beschissenes Gefühl, wenn du total machtlos bist, nicht weißt, wie es ihm geht und nicht helfen kannst. Weißt du, gerade in seinem Alter ist das schwierig. Er ist schon 93.« Seine Stimme zitterte leicht.

»Tut mir leid, dass ich mich letztens dir gegenüber so komisch benommen und mich nicht gemeldet habe. Ich will doch nicht, dass du dir Sorgen um mich machen musst.« Ich zog überrascht die Luft ein. Das erklärte sein ganzes Verhalten.

»Hey, alles gut. Das braucht dir nicht leid zu tun. Ich konnte das ja nicht wissen und hätte wahrscheinlich ähnlich reagiert. Selbstverständlich mache ich mir Gedanken um dich, weil du mir nun mal sehr wichtig bist«, erwiderte ich sanft und legte einen Arm um seine Schulter. »Warum besuchst du ihn denn nicht einfach im Krankenhaus?«, schob ich hinterher.

»Das geht leider nicht so einfach. Er lebt in der Schweiz«, erzählte er. »Du solltest trotzdem dort hinfahren - versteh mich jetzt bitte nicht falsch - aber man weiß nie, wann es zu spät ist.« »Natürlich, für mich ist Familie das Allerwichtigste. Ich würde es mir nie verzeihen, wenn ich nicht für sie da sein könnte. Aber ich habe in Berlin momentan wahnsinnig viel zu tun. Ich weiß nicht, wie ich das schaffen soll. Manchmal habe ich das Gefühl, dass mir alles über den Kopf wächst.« Er fuhr nachdenklich mit dem Finger eines seiner Tattoos am Arm nach.

»Was hat es eigentlich mit dir und den Raben auf sich? Du scheinst diese Tiere offenbar ziemlich gerne zu mögen.« Ich deutete auf das Tattoo und sah ihn erwartungsvoll an. »Ich habe dir doch schon mal erzählt, dass ich die ersten Jahre meines Lebens in Vevey verbracht habe. Wir haben dort in einem riesigen Schloss gelebt.« »Oh, Prinz Raphael Ragucci also. Wie das klingt! Das Leben auf einem Schloss stelle ich mir echt cool vor«, unterbrach ich ihn grinsend.

Raphael lachte freudlos auf. »Nein, ich war kein Prinz. Ganz im Gegenteil. Meine Eltern kamen aus Italien und haben dort als Gastarbeiter Wein geerntet. Dafür durften wir dann in dem Schloss leben. Es war wirklich schön in Vevey. Für mich war es das Paradies auf Erden. Wir hatten aber nie viel Geld. Früher habe ich gerne im Hof gespielt und oft war auch mein Opa bei mir. Im Schlosshof gab es immer unfassbar viele Raben. Schon bevor ich sprechen konnte, habe ich immer die Geräusche der Raben imitiert. Diese Tiere sind total clever und intelligent und das habe ich bewundert. Mein Opa hat mich immer ›kleiner Rabe‹ genannt. Ich war sein Rabenjunge.«

Er machte eine kurze Pause. »Hoffentlich geht es ihm bald wieder besser. Ich habe so Angst ihn zu verlieren.« Den letzten Satz flüsterte er nur noch. »Er wird es schaffen. Wenn du meine Meinung hören willst, dann solltest du deine Termine hier unbedingt verschieben und zu ihm fahren oder fliegen. Du kannst dich - so wie es aussieht - eh gerade nicht wirklich auf deine Arbeit konzentrieren und das bringt doch auch nichts. Deine Familie braucht dich«, versuchte ich ihm klarzumachen.

Ich merkte, wie durcheinander er war, und, dass ihn das Ganze definitiv noch mehr mitnahm, als er es nach außen hin zeigte. »Das stimmt wohl. Ich muss für sie da sein, so wie sie es auch immer für mich waren. Ich würde lieber jetzt sofort als erst in ein oder zwei Tagen in den nächsten Flieger zu meiner Familie steigen, aber leider geht heute keine Maschine mehr in die Schweiz. Hoffentlich krieg ich das alles hin.«

Nach einiger Zeit stand ich vom Sofa auf. »Ich geh mich kurz umziehen. Mir wird langsam kalt in den nassen Klamotten«, gab ich ihm Bescheid. Wenige Minuten später stand ich in einem kuscheligen weinroten Hoodie und einer Leggings im Türrahmen des Wohnzimmers. Raphael hatte sich inzwischen ebenfalls erhoben, stand mit dem Rücken zu mir am Fenster und blickte nach draußen auf die nächtlich beleuchteten Straßen Berlins.

Ich stand eine ganze Weile still da und beobachtete seine Silhouette im Schummerlicht. Lediglich die kleine dimmbare Lampe über meinem Esstisch war eingeschaltet. Schließlich machte ich ein paar Schritte in den Raum hinein. Der alte Parkettboden unter meinen Füßen knarzte laut. Erschrocken fuhr Raphael zu mir herum. Er musste komplett in Gedanken verloren gewesen sein.

Langsam kam er auf mich zu. Seine gesamte Aura wirkte düster. Raphael sah mich so intensiv und durchdringend an, dass ich das Gefühl bekam, dass er durch mich hindurch und direkt auf meine Seele schaute. Sein Blick war so voller Emotionen, dass er mir eine angenehme Gänsehaut bescherte. Ich verlor mich komplett in seinen dunkelbraunen Augen, die jetzt noch einige Nuancen dunkler wirkten und seltsam funkelten. Ich schmolz unter seinem Blick fast dahin.

Die beinahe unerträgliche Spannung, die sich innerhalb kürzester Zeit zwischen uns aufgebaut hatte, war deutlich spürbar. Raphael kam mir immer näher, strich mir über die Wange und schenkte mir ein atemberaubendes Lächeln. Vorsichtig legte ich meine Hände auf seine Brust und merkte dabei, wie schnell sein Herz schlug. Automatisch verzogen sich meine Mundwinkel nach oben.

Raphael beugte sich zu mir herunter und überbrückte den letzten Abstand zwischen uns. Sekunden später spürte ich seine weichen Lippen auf meinen, hauchzart und flüchtig. Mein Herz schien für einen Moment auszusetzen. Die Schmetterlinge in meinem Bauch flogen Loopings und meine Knie wurden weich. Total von meinen Gefühlen überrumpelt erwiderte ich schließlich seinen Kuss. Raphael zog mich noch näher an sich heran. Seine Hände wanderten zu meiner Taille und er küsste mich erneut, diesmal deutlich fordernder. Dieses Gefühl, es war wunderschön und nicht in Worte zu fassen. Fast zu schön, um wahr zu sein.

Als ich meine Augen wieder öffnete und ihn ansah, veränderten sich Raphaels markante Gesichtszüge auf einmal und es wirkte, als würde er aus einer Art Trance aufwachen. Plötzlich löste er sich abrupt von mir, trat nach hinten und brachte so einiges an Abstand zwischen uns. Ich sah ihn ratlos an und fuhr mir mit dem Zeigefinger über meine Lippen, wie um zu überprüfen, ob er mich wirklich geküsst hatte. »Raphael«, stammelte ich, »was sollte das gerade?« Der Kuss war toll, aber sein jetziges Verhalten verwirrte mich.

»Oh fuck! Das wollte ich nicht. Merde! Ich weiß nicht, warum ich ... wieso ... Ich hätte das nicht tun dürfen. Vergiss es einfach.« Er wandte sich ab, lief schnellen Schrittes in den Flur und ließ mich einfach an Ort und Stelle stehen. Ich streckte meine Hand nach ihm aus, um ihn am Arm festzuhalten, doch ich griff ins Nichts. »Raphael, warte!«, rief ich und setzte an, ihm hinterher zu gehen. Doch zu spät. Mit einem lauten Krachen fiel die Wohnungstür ins Schloss und er war weg.

Uff... was für ein Abgang von Raphael. Ich weiß auch nicht so recht.. Was haltet ihr davon?
Bitte hasst mich nicht zu sehr für das Ende des Kapitels.

In meiner Wolke | 1raf7Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt