27 | Standpauken und Geständnisse

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Nach einer unruhigen Nacht saß ich tags darauf mit Alex in seinem Auto und wir fuhren nach Berlin. Wie versprochen hatte John mir den Zweitschlüssel zu Raphaels Wohnung ausgeliehen, den ich tief unten in meiner Handtasche verstaut hatte. Etwa drei Stunden später waren wir in Berlin angekommen. Alex lenkte den Wagen geschickt in eine Parklücke unweit meines Wohnblocks und kam noch kurz mit hoch in meine Wohnung, ehe wir uns kurz darauf wieder verabschiedeten.

Nun saß ich in meiner kleinen Wohnung auf dem Bett und wusste nicht so recht, was ich tun sollte. Mein Kopf war wie leergefegt. Ich fühlte mich gerade ziemlich einsam und ließ die Ereignisse von gestern gedanklich Revue passieren. Der Streit hatte mir ordentlich zugesetzt. Ich hatte definitiv auch mit Schuld daran, vielleicht sogar mehr als Raphael.

Trotzdem konnte und wollte ich mich vorerst nicht dazu überwinden auf ihn zuzugehen. Nachdem ich ein heißes Bad genommen hatte, ging es mir etwas besser. Ich legte mir noch ein paar Unterlagen für die Uni zurecht, die ich morgen durcharbeiten wollte, und ging am Abend zeitig ins Bett.

Es waren seit den Geschehnissen in Hamburg knapp drei Wochen vergangen und seitdem herrschte komplette Funkstille. Weder von Raphael noch von John oder Alex hatte ich irgendetwas gehört. Der Alltag hatte mich wieder voll im Griff: Zur Uni gehen, lernen, Prüfungen schreiben, arbeiten und nebenbei den Haushalt schmeißen.

Die Motivation für mein Masterstudium nahm im Laufe der Zeit immer weiter ab. Übermorgen hatte ich endlich meine letzte Klausur in diesem Semester und danach wollte ich mich bei Raphael melden. Ich hatte in den letzten Wochen genug Zeit zum Nachdenken gehabt und merkte, wie stark ich ihn trotz des Konflikts vermisste.

Auch wenn wir – mal abgesehen von John – beide für den Streit verantwortlich waren, plagten mich aufgrund dessen, was ich gesagt hatte, ziemliche Schuldgefühle. Vielleicht würde mich der ein oder andere für verrückt erklären, dass ich Raphael nach der Show, die er abgezogen hatte, noch nachlief, aber ich wollte unbedingt mit ihm reden und hoffte auf eine Erklärung seinerseits. Ich musste wissen, ob er das alles ernst gemeint hatte, und ich wollte mich auch für das, was ich gesagt hatte, entschuldigen. Wir hatten beide überreagiert.

Die Vorwürfe, welche ich ihm gemacht hatte, waren in meinen Augen schwerwiegender als seine Beleidigungen mir gegenüber. Darüber konnte ich nach einiger Zeit und mit etwas Abstand einigermaßen gut hinwegsehen. Ich wusste, dass es dieses Mal an mir lag, einen Schritt auf ihn zuzugehen, wenn ich das mit uns noch retten wollte.

Trotz allem fiel es mir schwerer als gedacht am Freitagabend zu Raphaels Wohnung zu fahren. Die Ungewissheit darüber, was mich erwartete und wie er reagieren würde, machte mich nervös. Den Ersatzschlüssel für die Wohnung hielt ich mit meiner linken Hand so fest umklammert, dass meine Fingerknöchel schon weiß hervortraten, während ich aufgeregt unten vor der Eingangstür stand und von einem Fuß auf den anderen trat.

Ich klingelte zunächst bei Raphaels Namen, woraufhin jedoch niemand öffnete. Also wartete ich eine günstige Gelegenheit ab und schlüpfte in das Gebäude, nachdem jemand hinausgetreten war. Mit dem Aufzug fuhr ich ins oberste Stockwerk. ›Vielleicht ist Raphael ja gar nicht da‹, schoss es mir durch den Kopf. Er könnte genauso gut im Studio, bei Freunden, beim Training, in Wien oder sonst wo sein.

Je länger ich überlegte, desto unsinniger kam mir die Idee vor, Raphael einen Überraschungsbesuch abzustatten. Ich hatte mir nicht mal ein paar Worte zurechtgelegt. Raphael würde sicher nicht begeistert davon sein, dass ich ungefragt hier auftauchte. Bevor ich jedoch einen Rückzieher machen würde, steckte ich energisch den Schlüssel ins Schlüsselloch, drehte ihn um und öffnete die Tür.

Leise trat ich in den unbeleuchteten Flur. Die Luft war abgestanden und warm. Eine Mischung aus Alkohol-, Zigaretten- und Grasgeruch umwehte mich und ließ leichte Übelkeit in mir aufsteigen. Zuerst warf ich einen Blick ins Schlafzimmer – kein Raphael. Das gleiche Bild bot sich mir auch in seinem Arbeitszimmer und im Bad. Unsicher ging ich weiter in Richtung Wohnzimmer. Was ich dort sah, schockierte mich.

In meiner Wolke | 1raf7Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt