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⏯: Green Day-Wake Me up When September Ends

Ich habe manchmal das Gefühl dass der Himmel hier blauer ist.
Nein, eigentlich bin ich davon sogar fest überzeugt. Jedes Mal wenn ich in der Mittagssonne auf der Dachterasse sitze und vergeblich versuche eine Wolke am Horizont zu finden, fällt mir auf dass das Blau hier nochmal um mindestens drei Nuancen krasser sein muss.
Sonst achtet da keiner wirklich drauf,
vielleicht weil in der Mittagszeit alle in ihren Häusern verkrochen sind um sich vor der ätzenden Hitze zu verstecken oder um schlichtweg einfach zu pennen.
Ich nicht.
Offensichtlich.
Sonst würde ich nicht jedes Mal nur mit einem knappen Shirt bekleidet auf dem Dach liegen, kläglich versuchen auf der Gitarre meines Onkels Mohammeds zu spielen und gleichzeitig über diesen beschissenen blauen Himmel nachdenken.
So wie jetzt gerade.
Mal wieder.
Ich lege die Gitarre weg,
greife neben mich nach meiner kleinen Flasche Sidi-Ali Wasser, welches durch die Sonne inzischen pisswarm geworden ist.
Etwas angewidert nehme ich ein paar Schlücke und stelle mich hin.
Schaue über die unzähligen Dächer unseres Viertels,
ab und zu bellen Hunde.
Irgendwo weint ein Baby.
Sonst ist alles wie ausgestorben.
Ich schüttel unverständlich den Kopf.
Die wissen doch gar nicht was die verpassen,
die werden niemals wie ich erfahren wie blau der Himmel hier doch ist.
Ich höre von unten aus dem kleinen Garten ein lautes Scheppern,
ich rolle mit den Augen.
Es ist das altbekannte Geräusch eines Besens der gegen den Zaun gehauen wird, welches meine Tante Yousra tagtäglich nutzt um mit mir Kontakt aufzunehmen wenn ich mal wieder auf dem Dach hocke.
Ich beuge mich runter,
schaue erwartungsvoll in die Tiefe.
"Ich hab doch schon aufgehört die Gitarre zu misshandeln, alles gut!"
Lache ich.
Yousra reckt ihren Hals nach oben,
ihr Gesicht ist verkniffen.
"Komm runter und helf mir beim Wäschemachen"
Ruft sie hoch.
Ohne Widerrede strecke ich mich und kletter durch eine kleine Tür im Dach zurück ins Haus,
renne barfuß durch das kühle, geflieste Treppenhaus und die tiefrot eingerichteten orientalischen Wohnzimmer in denen meine Cousins mal wieder rumliegen und pennen.
Unten im Garten angekommen mustert mich Yousra erstmal kritisch.
"Zieh dir was über, sonst sehen dich so noch die Nachbarn"
Zischt sie mir zu, ich muss kichern.
Unsere Nachbarn sind eine kleine, extrem streng muslimische Familie deren "Boss" eine mind. 100 Jahre alte Oma ist vor der alle hier im Viertel unheimlich Respekt haben.
Manche sagen sie könne Geister sehen, mein Cousin Amin ist sogar der festen Überzeugung sie habe heilende Kräfte.
Aber Amin ist auch sonst recht speziell, von daher gebe ich nicht viel auf seine Meinung.
Mit einer Schürze um die Hüfte gebunden stehe ich mit Yousra neben dem Wäschekorb und klammere einige Hemden an der Leine fest.
Sie wischt sich den Schweiß von der Stirn und bindet sich die schulterlangen schwarzen Locken zusammen die an einigen Strähnen ergraut sind.
Irgendwie schaue ich auf irgendeine Weise zu ihr auf.
Yousra hat unglaublich viel Lebenserfahrung, sie ist hier quasi der Chef im Haus und hat keine Scheu dass zu sagen was sie denkt.
Gleichzeitig schafft sie es auch noch sich um ihre Kinder zu kümmern.
Und um mich.
Mehr oder weniger bewusst.
"Hast du schon deine Eltern angerufen?"
Fragt sie mich während sie einige Boxershorts auf die Leine knallt.
In meiner Magengegend zieht es,
ich schaue weg und schüttel schweigend den Kopf.
Sie mustert mich wortlos,
hat wohlmöglich mit nichts anderem gerechnet.
"Meld dich wenigstens mal bei deiner Mutter"
Grummelt sie.
Würde ich ja auch,
glaub mir, Yousra.
Aber jedes Mal wenn ich sie dann am Hörer habe kriege ich kaum ein Wort raus.
Eine streunende Katze schleicht sich plötzlich an meinen Beinen vorbei.
Ich lasse mich zu ihr auf den Boden sinken und kraule sie hinter den Ohren.
Ich will nicht darüber nachdenken.
"Los, weiter jetzt"
Yousra stupst mich mit dem Besen an.
Ich strecke mich und springe wie auf Kommando wieder auf,
der Himmel ist immer noch knallblau.

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