Begegnung buchstäblich ins Herz

Kapitel 42

Talia Sicht

Nach meinen Worten blieb es still zwischen uns und einen Moment lang starrte ich Joel einfach nur an, versuchte irgendetwas aus seiner Mimik heraus zu lesen, doch mit dem was er als nächstes sagte nahm er mir für kurze Zeit den Atem.

,,Bist du wirklich so blind, Talia oder willst du es einfach nicht sehen? Willst du einfach nicht sehen, dass es auch Menschen gibt, die dich lieben und das nicht jeder Mensch, der neu in dein Leben tritt etwas schlechtes im Sinn hat? Ich meine, nicht nur Menschen bereichern dein Leben, nein, du bereicherst genauso das Leben von anderen, auf so viele verschiedene Weisen, dass ich sie gar nicht alle zusammenfassen kann. So versuchst du deiner kleinen Schwester zum Beispiel eine Kindheit zu ermöglichen, die du nie hattest, von der du immer nur träumen konntest und die dir gewiss weniger Schmerzen bereitet hätte. Aber anstatt dich davon runter ziehen zu lassen, einfach abzuhauen und deine Rabeneltern zurück zu lassen, ziehst du deine kleine Schwester auf, und ich bin mir zu hundert Prozent sicher, dass Lilly nicht so ein Goldschatz wegen deinen Eltern geworden ist. Und von deiner kleinen Schwester mal abgesehen, bist du vor allem auch in das Leben von Vitus und mir getreten und hast vor allem einem von uns beiden mächtig den Kopf verdreht. Denkst du im Ernst, du leidest alleine? Denkst du im Ernst, du bist die einzige, die kein Auge mehr zubekommt? Ich meine, ernsthaft Talia, hast du die ganze Woche wirklich nicht bemerkt wie Vitus dir immer wieder hinter her gestarrt hat? Hast du nicht gemerkt, dass er trotz seines Verhaltens ständig dafür gesorgt hat, dass wir während der Schule immer in deiner Nähe sind, damit er bloß weiß, dass du in Sicherheit bist. Er wäre dir wahrscheinlich auch noch nach Hause gefolgt, nur um sicher zu gehen, dass es dir wirklich gut geht, wenn seine Brüder und ich ihn nicht davon abgehalten hätten. Er vermisst dich mindestens genauso, wie du ihn, denn verdammt nochmal Talia, er liebt dich nun mal, das sieht jeder Blinde. Er lacht, wenn du lachst. Er strahlt, wenn du strahlst, aber genauso leidet er auch, wenn du es tust und genau das ist es, was ihn im Moment so fertig macht. Das er einfach nicht bemerkt hat, durch was für eine Hölle du gerade gehst. Das er einfach nicht verstanden hat, wie sehr du bitte leidest, leidest unter der psychischen Gewalt deiner Eltern, leidest unter der physischen Gewalt von Theo und Tom. Er hat es einfach nicht gesehen, und ja, im Grunde weiß er, dass es keiner von uns gesehen hast, denn verdammt nochmal, du hast dir einfach nichts anmerken lassen Talia, aber im Endeffekt hilft das Vitus nicht. Alles was im Moment für ihn zählt ist, dass er nicht für dich da wahr als du ihn wirklich gebraucht hast, und das kann er sich einfach nicht verzeihen, Talia''

Joels Worte ließen meinen Mund wie von alleine etwas aufklappen und ihn dann fassungslos anstarren.

,,Wenn das alles wahr sein soll-'' begann ich schließlich meinen Satz, unterbrach mich selbst aber nochmal kurz, um mich richtig zu fassen.

,,Wenn das wirklich alles wahr sein soll, wieso lässt Vitus es dann so aussehen, als wäre ich das Problem? Wieso lässt er mich denken, dass ich alles kaputt gemacht habe, ihm nicht ansatzweise so wichtig bin, als das ihn meine Probleme interessieren könnten? Wieso lässt er mich ausgerechnet jetzt alleine, jetzt in dem Moment, wo ich ihn am meisten brauche?''

,,Glaub mir Talia, Vitus lässt das alles so aussehen, als wäre es das leichteste für ihn, doch das ist es überhaupt nicht, das versteht man spätestens, wenn man ihn dabei beobachtet, wie er in sich zusammenfällt, sobald er bei sich Zuhause ist. Ich kenne meinen besten Freund gut genug, um zu wissen, dass er nicht aus Spaß den Unbekümmerten spielt, sondern viel mehr dahinter steckt außer sein schlechtes Gewissen. Ich hab den anderen Grund nur noch nicht heraus gefunden und so kann ich dich nur darum bitten, mir zu glauben, dass nicht alles so ist wie es im Moment scheint. Das du Vitus sehr wohl wichtig bist, das du mir verdammt nochmal wichtig bist und es daneben auch noch so viele andere Gründe gibt, dein Leben noch nicht aufzugeben''