Lya
„Lya, hilfst du mir kurz?", rief meine Mutter aus dem Wohnzimmer.
„Ja, Mama!" Schnell versteckte ich das Buch, das ich seit ein paar Stunden las, unter meiner Bettdecke. Ich hatte gerade einiges darüber gelesen, wie man Gegenstände schweben ließ. Arthur hatte recht gehabt. Er hatte uns wirklich Basiswissen mitgegeben. Aber es war interessant! Warum musste sie mich ausgerechnet jetzt stören? Seufzend trottete ich die Treppe hinunter und sah sie sofort, wie sie gerade im Wohnzimmer neben der Couch einige Glasscherben aufkehrte.
„Dein Bruder..." Sie verdrehte die Augen. Was hatte Fynn denn angestellt? „Er hat die Vase umgeschmissen" Sie redete aber nicht von seinen Kräften. Oder? Nein, sie wusste doch nichts davon. Oder? Wir hatten uns doch versprochen, ihnen nichts davon zu erzählen!
„Was hat er denn gemacht?" Ich versuchte, meine Nervosität zu verstecken, während ich Schaufel und Besen nahm und versuchte, die Scherben aufzukehren.
„Ich weiß es nicht. Er dachte wohl, es sei lustig, die Vase umzustoßen, während ich die Wäsche aufgehängt hab..." Sie klang ziemlich genervt. Das hieß, sie hatte nichts gesehen... Ich atmete erleichtert aus.
Eine eigenartige, knallblaue Flüssigkeit war nun überall auf dem Boden. Sie war wohl auch aus der Vase gekommen... Ich holte ein Tuch und gemeinsam putzten wir den Boden. Wo war Fynn dann jetzt? Als wir fertig waren, bemerkte ich, dass die blaue Flüssigkeit auch an meinen Fingern klebte. Seufzend ging ich ins Badezimmer. Der Spiegel war genau auf der Höhe der Augen, wenn man sich die Hände wusch. Ich sah meine langen braunen Haare an. Hatte dieses blaue Zeug etwa auch in meine Haare gespritzt?
Plötzlich sah ich nicht mehr mein Spiegelbild, sondern mich selbst, sitzend in der Bibliothek. Fynn und ich saßen in der Bibliothek gegenüber auf dem Boden. Wir hatten unsere Hände aufeinandergelegt. Ein kleiner schwarzer Ball erschien plötzlich über unseren Händen. Doch dann sahen wir beide zur Tür, als hätten wir etwas gehört. Durch die Tür kamen Kailey und Henry.
„Lya!" Die Stimme meiner Mutter holte mich wieder aus der Vision. Ich blinzelte ein paar Mal und sah sie vor mir. Sie schüttelte mich an den Schultern. Was machte sie denn da? Ich hörte ein Rauschen im Hintergrund, was mich daran erinnerte, dass ich das Wasser nicht abgedreht hatte. Schnell wand ich mich aus ihrem Griff und drückte den Wasserhahn hinunter.
„Alles okay? Was war denn mit dir los?" Sie sah mich ängstlich an. Wie sollte ich das erklären?
„Tut mir leid, ich war wohl...kurz weggetreten...", war mein Erklärungsversuch.
„Du hast mir Angst gemacht" Sie sah wirklich nervös aus. „Hör zu, ich weiß, dass...das alles mit deinen Eltern dich momentan sehr verwirrt, aber..." Was?
„Nein!", unterbrach ich sie schnell. Sie sollte nicht denken, dass es ihre Schuld war! „Darum geht's nicht..."
„Du erzählst mir gar nichts mehr seitdem wir über eure Eltern geredet haben..." Da hatte sie recht. Es war mir nicht aufgefallen, aber nachdem ich nichts mehr außerhalb des Hexenzeugs erlebte, konnte ich ihr nichts erzählen... Das musste sie sicher verunsichert haben!
„Nein. Ich meine... Das hat nichts mit dir zu tun, Mama" Ich seufzte und wagte nicht, sie dabei anzusehen. Ich hasste es, ihr nicht alles sagen zu können. „Ich hab nur momentan viel um die Ohren..."
„Okay, aber du kannst jederzeit mit mir reden" Sie lächelte mich noch an und verließ dann das Badezimmer. Um zu verarbeiten, dass ich meine Mutter anlügen musste, atmete ich einmal tief durch. Dann hatte ich endlich Zeit, über meine komische Vision nachzudenken. Wieso hatte ich Kailey und Henry in der Bibliothek gesehen? Ich musste mit Fynn reden.
Fynn
„Fynn!" Ich saß gerade in unserem Keller auf einem Sitzsack und las eines der Bücher, die Arthur uns gegeben hatte. Diese Grimoires waren schlecht beschriftet, doch ich konnte langsam verstehen, dass es um das Interpretieren von Wahrsagungen ging. Visionen, nahm ich an. Doch nun rief jemand mich. Überrascht drehte ich mich zur Kellertür um, die sich hinter mir befand. Es war Lya.
„Was ist los?" Sie hatte aufgeregt geklungen und sah mich nun aufgeregt an.
„Ich hab etwas gesehen!" Sie versuchte, leise zu kreischen, was sehr witzig klang. Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen und legte das Buch zur Seite. Doch dann sah sie zu Boden. „Es...es geht um Kailey und Henry..."
Jetzt wurde ich ernst. „Was ist mit ihnen?"
„Wir waren in der Bibliothek und haben irgendwie gezaubert und die beiden...haben es gesehen..." Sie begann langsam, ängstlich auf der Unterlippe zu kauen.
„Was?" Sie würden herausfinden, was wir waren? Das konnte nicht passieren! „Nur, weil du es gesehen hast, heißt das aber nicht, dass...es passiert" Ich schüttelte den Kopf.
„Bist du sicher? Arthur hat doch gesagt, dass diese Träume eintreten" Lya legte ihre Stirn in Falten. Ja, ich war mir sicher! Wir konnten unsere besten Freunde da nicht mit hineinziehen! Außerdem wussten wir gar nicht, wie Visionen funktionierten! Da fiel mir das Buch wieder ein, das ich gerade las und ich nahm es erneut in die Hand.
Lya ließ sich nun neben mich in den Sitzsack fallen, den ich bis jetzt nicht verlassen hatte. Durch ihr neues Gewicht wurde ich beinahe hinausgeschleudert und konnte mich und das Buch gerade noch fangen.
„Hey!" Ich versuchte, sie hinauszuschieben, doch sie ließ sich nicht so einfach bewegen, sondern nahm mir stattdessen das Buch aus der Hand.
„Ist das das Buch von Arthur?", fragte Lya und begann zu blättern.
„Ja, es geht um Wahrsagungen" Ich nickte und sah ebenfalls in das Buch.
„Steht da auch, ob sie immer wahr werden?" Sie wurde hellhörig.
Ich zuckte nur mit den Schultern. Ich hatte bis jetzt erst das Einführungskapitel gelesen.
„Was weißt du denn bis jetzt?" Sie klappte das Buch zu und sah mich gespannt an, als würde ich ihr gleich eine Gute-Nacht-Geschichte vorlesen.
„Nur, wie oft sie auftreten. Was übrigens ein unnötiges Einführungskapitel war, weil sie einfach auftreten, wann sie wollen" Ich verdrehte kurz die Augen über die verschwendete Zeit. „Der Hexer, der das geschrieben hat, hat aber irgendwo angemerkt, dass sie nur auftreten, wenn sie den Wahrsager vor etwas Gefährlichem warnen wollen"
„Deswegen habe ich Henry und Kailey gesehen!", rief sie begeistert. Da hatte sie vermutlich recht. Das war wohl als gefährliche Situation zu beschreiben und die Vision hatte sie davor warnen wollen. Aber hieß das, es würde eintreten? Sie versuchte, sich wieder zusammenzureißen und meinte dann: „Weißt du, wann solche Träume eintreten?" Guter Einfall!
„Noch nicht" Ich blätterte ein paar Seiten weiter, um zu sehen, ob es dort stand.
„Lya!", hörte ich meine Mutter plötzlich von oben rufen. „Kannst du mir Kartoffeln aus dem Keller mitnehmen?" Lya sprang sofort auf und rief mir im Gehen noch zu:
„Lies weiter und erzähl mir dann, ob du was gefunden hast!"
„Mach ich" Somit wandte ich mich wieder dem nicht allzu spannendem Buch zu. Das durfte nicht passieren! Ich musste also schnell eine Lösung finden.

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Hexennacht
ParanormalEine mysteriöse Nachricht. Eine rätselhafte Seitengasse. Ein eigenartiges Geschäft. Fynn und Lya sind adoptiert und entdecken plötzlich durch eine einfache Nachricht, dass sie anders sind, denn ihre leiblichen Eltern waren nicht so normal, wie sie...