-1.1- Das Spinnennetz

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Er war allein. Jedes Mal, wenn ich ihn sah.

Die Wellen umspielten das Ufer und seine dünnen Beine in schwarzen, hochgekrempelten Jeans. Wind zupfte an seinem T-Shirt und strich durch das kurze, dunkle Haar. Das Licht der aufgehenden Sonne spiegelte sich in seinen Kopfhörern und beinahe sah es so aus, als umgäbe ihn ein heller Schein.

Ich strich mit den Fingerkuppen über den schmalen Kamm der Düne, hinter der ich mich verborgen hielt. Feine Sandkörner tanzten vor meinen Augen. Der Morgen tauchte alles in ein milchig goldenes Licht, indem unsere Schatten verschwammen.

Ich verlor mich im Anblick seiner gebräunten Arme, die so ruhig auf seinen Beinen ruhten, als wäre er eine Galionsfigur.

Seit zwei Monaten sah ich ihn dort sitzen. Und noch immer hatte er nichts von seinem Zauber verloren, den das Meer ihm schenkte.

Er saß mit dem Rücken zu mir gewandt und doch wusste ich, dass sein Blick über den Horizont wanderte.

Niemand saß nur reglos da, wenn er nicht nach irgendetwas suchte. Und genau das war es, das mich jeden Morgen antrieb, hier herauszukommen. Ich blickte über Liams Kopf hinweg. Das Gold der Sonne lag auf den Wellen, als bewachten sie einen Schatz. Doch ich wollte wissen, was dahinter lag. An dem Ort, woher die Möwen kamen. Die Schiffe. Und all die verträumten Seemannslieder.

Heyho ...

Ich lächelte in mich hinein. Es war Zufall gewesen, dass Liam und ich uns genau denselben Ort am Strand ausgesucht hatten. Doch je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr hatte ich das Gefühl, Zufall war nur ein anderes Wort für eine Aneinanderreihung von Ereignissen, die wir nicht vorhersehen konnten.

Und vielleicht war Liam nur ein weiteres Geheimnis des Meeres.

Zwei Monate. Das war eine lange Zeit und doch kam sie mir vor wie eine einzige Ebbe. Eine einzige Ebbe, in der ich darauf wartete, dass er etwas sagte.

Ich hatte Liam noch nie reden gehört. Die Leute aus meiner neuen Schule meinten, er wäre nicht stumm. Er hatte nur plötzlich aufgehört zu reden.

Vielleicht war er ein Seemann, dem die Stimme geklaut wurde und nun saß er jeden Morgen vor der Nordsee und wartete darauf, dass sie zu ihm zurückkehrte.

Doch das war nur eine der vielen Theorien, die ich mir in den vergangenen Wochen ausgemalt hatte. Die Sonne war ein Stück weiter nach oben gewandert. Ich hob schützen den Arm und blinzelte. Der sonderbare Junge vor mir hatte sich im Licht in eine Silhouette verwandelt.

Ich vergrub meine Hände im warmen Sand und stütze mein Kinn auf dem Dünenkamm ab. In den ersten Tagen, nachdem ich diese Stelle am Strand für mich gefunden hatte, war ich mir wie ein Stalker vorgekommen. Liam war jeden Morgen da, zuverlässig wie die Gezeiten. Genau wie ich. Doch mittlerweile betrachtete ich es anders: Er und ich, wir waren zwei Seelen, die das Rauchen der Wellen hören wollten, die Zeuge werden mussten, wenn der Tag die Nacht verdrängte, damit wir uns lebendig fühlten. In der letzten Zeit waren die Tage viel zu oft einfach an mir vorbeigezogen. Doch hier, umgeben von Sand und Wellen, von den leisen, noch fernen Schreien der Möwen und der salzigen Luft, kam es mir vor, als könnte jeden Moment ein neues Leben beginnen.

Das neue Leben, von dem meine Mum gesprochen hatte, bevor wir hierhergezogen waren. Es war ihre Idee gewesen, in eine Kleinstadt am Rande Schleswig-Holsteins zu ziehen. 8250 Einwohner zählte die Gemeinde Drya. Eine verschwindet kleine Zahl verglichen mit den dreieinhalb Millionen Menschen, die in Berlin lebten.

So klein wie Liam und ich vor dem Anblick des Meeres.

Für einen Moment hatte ich das Gefühl, ich könnte abheben, den Schutz meiner Düne verlassen und über das Meer fliegen. Dorthin, woher die Möwen kamen. Die Schiffe. Und all die verträumten Seemannslieder ...

Herz aus Salz und GlutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt