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Noch ganz verzaubert von dem eigentümlichen Traum über die rote Frau, schlich ich mich am frühen Samstagmorgen aus dem Haus. Ich konnte mich nicht ewig in meinem Zimmer verkriechen, der baldige Sonnenaufgang lockte mich nach draußen und schon, als ich in der Ferne das Rauschen der Wellen hörte und den salzigen Wind einatmete, stellte sich ein wohliges Gefühl in mir ein. Von so einer dummen Insel am Horizont würde ich mir mein Ritual nicht nehmen lassen, jeden Morgen an den Strand zu gehen und ... auf Liam zu warten. Der Gedanke daran, ihm zu begegnen, verursachte ein seltsames Flattern in meiner Brust. Er beflügelte mich und ließ mich schneller laufen. Doch als ich über die Dünen kletterte, konnte ich ihn nirgendwo entdecken. 

Enttäuscht stellte ich mich alleine ans Ufer. Ich fühlte mich kein bisschen mehr krank, sondern im Gegenteil, energiegeladen. Kaum berührte mich das Wasser, bemerkte ich das Schwingen in mir. Ganz leise vernahm ich eine Melodie, als würde jemand irgendwo da draußen auf den Wellen sitzen und Harfe spielen. 

Die Töne wirkten so leicht, als hätten sie sich mit dem Wind vereinigt, aber gleichzeitig auch tief und alt wie das Meer – voller Erinnerungen und Gefühle, voll von Stimmen und Geschichten. Ich bekam Gänsehaut, konnte nicht begreifen, wie so viel in eine einzige Melodie passte. Eine Melodie, die, ähnlich wie die Insel, einfach aufgetaucht war, als hätte sie beschlossen, nun für mich zu spielen.

Vielleicht verhielt es sich aber auch andersherum. Vielleicht hatten meine Ohren nun beschlossen, sie zu hören. Egal, wie herum, egal, woher sie stammte, die Musik veranlasste mich dazu, ins Wasser zu waten und einen Tanz zu beginnen.

Einen Tanz, der mir so eigen schien, als hätte ich ihn von Kindesbeinen an gelernt. Ich breitete die Arme aus, hob das Wasser an, drehte mich und beobachtete dabei, wie ein durchsichtig schimmerndes Band um mich kreiste. Mit jedem Schritt, den ich tat, bildeten sich neue Strömungen und die Wellen folgten meinen wiegenden Bewegungen. Es fiel mir mit einem Mal viel leichter, das Element zu bewegen, als hätte das Fieber verborgene Kräfte in mir erweckt. 

Mit einem Strahlen auf den Lippen drehte sich mich am Ufer entlang, sprang in die Luft und wirbelte meine Beine umher, so dass ein schimmernder Wall aus Meerwasser entstand. Vor und zurück, gab ich mich der Melodie hin, bog meinen Rücken nach hinten, streckte mein rechtes Bein in die Luft, sprang, drehte mich und hüllte mich in eine folgsame Welle ein. 

Es dauerte nicht lange, da begangen meine Muskeln zu zittern und zu schmerzen, aber ich fühlte mich so ergriffen von dem Lied, dem feuchtem Sand unter meinen Füßen und den schäumenden Kronen der Nordsee, dass ich mich nicht bremsen konnte. 

Doch dann spürte ich ein warmes Kribbeln auf meiner Brust und auch, wenn die Kette auf dem Grund der Nordsee lag, wusste ich sofort um seine Anwesenheit. Abrupt hielt ich inne, drehte mich um und ... 

Er lächelte. Das Licht der Morgensonne ließ sein Gesicht beinahe golden wirken und er ... Liam stand da, fuhr mit dem Finger über die Seiten der Kopfhörer, die um seinen Hals baumelten, und lächelte.

Er sah besser aus und schien sich von seinem Fieber erholt zu haben.

»W-was machst du hier?«, brachte ich hervor und überlegte, ob ich wegrennen oder mir lieber eine halbwegs vernünftige Erklärung für das überlegen sollte, was er gerade gesehen hatte – nämlich mich. Ein Mädchen, das mit dem Wasser tanzt und die Wellen bewegt. 

Liam setzte sich in den Sand und deutete auf den Platz neben sich. 

»Du willst ... dass ich ... « Ich fuhr mir durch die Haare, nicht im Stande, den angefangen Satz zu Ende zu führen. Liam nickte. Noch immer lag dieses Lächeln auf seinen Lippen. Es sah aus wie die Melodie sich anhörte. Fast nur ein Hauch, eine Andeutung, aber tief ... Tief und ... traurig. 

Herz aus Salz und GlutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt