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Mit einem mulmigen Gefühl im Magen trat ich bis an die Spitze, überblickte die blaugrau wogenden Wellen bis zum Horizont. Doch ich konnte die Insel nicht sehen. 

»Zeige dich mir«, murmelte ich in aufkommenden Wind hinein. Dunkle Wolken türmten sich in der Ferne auf, als kämpften dort die Heerscharen der Engel, gegen die Dämonen der Zeit. 

»Zeig dich mir!«, rief ich nun und beschwor das Kribbeln in mir hervor. Wellen schlugen begierig gegen die Steilwand. Wassergeister stoben daraus hervor wie Funken, doch die Insel tauchte nicht auf. 

Ich blickte hinab auf die schäumende Nordsee. »Willst du, dass ich springe?«, flüsterte ich. »Ist es das?« 

Lähmende Angst überfiel meine Glieder. Ich erinnerte mich noch zu gut an das Gefühl, zu ertrinken. An die Panik und das unerträgliche Brennen in der Brust. Beim ersten Mal hatte mich Liam gerettet, beim zweiten Mal, musste er ganz in meiner Nähe gewesen sein. Aber nun stand ich hier alleine und wusste nicht mal, ob mich der Sog dieses Mal erfassen würde. Ein Sog, der mich weit, weit hinaustrug, an einen Ort, der im Nirgendwo zu existieren schien. Selbst, wenn ich dorthin gelangte, wie sollte ich zurückkommen? Ich besaß keine Flügel, ich verstand nichts von der Magie, die von diesem Ort ausging. Ich wusste nicht, welche Gefahren dort auf mich lauerten. War die Insel mir freundlich gesinnt oder sah sie mich als Eindringling an? Was, wenn mit mir dasselbe geschah wie mit Lydia? 

Mich erfasste ein Schauer, als ich bemerkte, dass ich über die Insel dachte, als wäre sie ein lebendiges Wesen. So abwegig war der Gedanke allerdings nicht und das machte mir noch mehr Angst. Das Meer besaß eine Seele, einen Geist, ein Herz, also wieso nicht auch diese verfluchte Insel. 

Ja - verflucht. Das war das richtige Wort. Alles schien dort verflucht zu sein. Und ich sollte diejenige sein, die diesen Fluch brechen konnte – den wirren Worten Lydias zufolge. 

Doch, wenn es wirklich so war, warum zeigte sich mir die Insel dann jetzt nicht? Spielte sie mit mir? 

Der Wind frischte auf und ich rieb mir über die Arme. Eine Böe jagte über das Meer und prallte heulend an den Felsen ab. In der Ferne konnte ich dunkelgraue Fäden von drohenden Regenschauern erkennen, die über den Wellen hingen.Sie kamen schnell näher.. Mich überkam das Gefühl, als trügen die schweren Wolken ein Unheil mit sich, das mit jeder Sekunde näher rückte. 

»Liam«, dachte ich. »Bist du hier?« Stille. Ich konnte ihn auch nicht spüren. Dafür nahm ich etwas Anderes wahr. Ein schwaches Pulsieren unter meinen Füßen. Ein Flüstern lag in der Luft. Ein Flüstern, gefüllt mit Worten, die ich nicht verstand, die aber etwas in mir auslösten. Ich hatte das Gefühl, als müsste ich mich an etwas erinnern, als hätte ich etwas übersehen. Ein Puzzleteil. Ein wichtiges Puzzleteil. Es schwebte vor mir und dennoch konnte ich es nicht greifen. Die Nordsee wollte mir etwas sagen, aber egal, wie angesträngt ich lauschte, ich konnte seine Sprache nicht verstehen.

Seufzend wandte ich mich ab. Es gab noch einen Ort, an den ich gehen konnte. Vielleicht fand ich dort Liam... vielleicht fand ich dort Antworten. 

Ich wandte mich ab, kehrte zurück an den Strand und folgte dem Küstenverlauf. Der Leuchtturm stand ein ganzes Stück abseits der Badestrände und sobald sich die Strandbesucher mit ihren bunten Handtüchern und Beachwollybällen lichteten, beschleunigte ich mein Tempo. Ich achtete darauf, nicht zu schnell zu rennen. Einmal, weil ich meine Kräfte einteilen musste, zum anderen, weil hier und da immer wieder Menschengruppen auftauchen.

Ich brauchte eine Weile, bis ich das blaugrüne Gebäude erreichte. Majestätisch ragte es zwischen den Felsen in einen immer dunkler werdenden Himmel. Die grauen Fäden hatten sich zu einem dichten Vorhang verdichtet, der binnen Sekunden über den Strand fegen würde. Ich eilte über die Dünen und erreichte gerade rechtzeitig die Tür, ehe der Regen einsetzte. Ich stemmte mich dagegen und schob mich in den Leuchtturm. Mattes Licht fiel von oben herab auf die dunklen Stufen. Ich betrachtete die abgebrannten Fackeln und schauderte. Es fühlte sich so an, als wäre ich das letzte Mal vor tausend Jahren hier gewesen. Ehrfürchtig begann ich den Aufstieg und fühlte immer wieder nach Liam. Doch ich konnte ihn nicht spüren.

Herz aus Salz und GlutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt