Nur mit Mühe konnte ich meine Mum dazu überreden, früher aus dem Haus zu dürfen, damit ich vor der ersten Stunde noch an den Strand konnte. Ich musste ihr versprechen, heute gleich nach der Schule nach Hause zu kommen und mich nicht noch irgendwo herumzutreiben.
Als ich Liam am Strand sitzen sah, durchfuhr mich sofort ein warmer Schauer. Noch ehe ich über die Dünen geklettert war, stand er auf und drehte sich zu mir um.
Etwas unschlüssig blieb ich vor ihm stehen und strich die blaue Bluse glatt, die der Wind immer wieder aufzublähen drohte. In seinem schwarzen T-Shirt und gleichfarbigen Shorts, sah er beinahe kalkweiß im Gesicht aus. Dunkle Ringe lagen unter seinen Augen. »Ist ... ist alles in Ordnung?« Ich dachte an Samstagnacht zurück, in der er aus der Oase ... geflüchtet war.
Liam schenkte mir ein schwaches Lächeln und nickte den Küstenverlauf nach oben. Er sagte nichts ...
»Wo willst du denn hin?« Er zog die Brauen hoch und malte mit den Händen ein Viereck in die Luft.
»In die Schule?«
Er nickte.
Ich musterte ihn skeptisch. Er sah wirklich nicht gesund aus. Eher, als wäre er zu lange im Meer herumgetrieben. Tod. »Wollen wir über das reden, was am Samstag passiert ist?«
Liam nahm meine Hand, drehte sie so, dass die Oberfläche nach oben zeigte und zeichnete etwas mit seinem Zeigefinger darüber.
»S? O? I? I? Ähm, Y? Ach so – Sorry. Sorry, wegen was?« Liam ging sich durch die Haare, dann deutet er auf sich und ließ seine Finger in der Luft gehen.
»Sorry, weil du einfach gegangen bist?«
Er nickte.
»Und wieso sagst du das nicht einfach? Was soll die Zeichensprache? Hier ist niemand, der dich reden hören könnte. Hier bin nur ich.«
»Tut mir leid«, hauchte er.
»Schon gut. Auch das mit dem Café. Es war ja auch schon spät. Klara ist aber wirklich ziemlich nett.«
Liam zog die Schultern hoch, dann biss er sich auf die Unterlippe und schüttelte den Kopf. Ich wusste nicht, was er mir sagen wollte.
»Keine Angst, ich habe ihr nichts erzählt.«
Liam seufzte, legte seine Hand auf meinen Kopf und sah mir kurz in die Augen, dann nickte er. Ich weiß, schoss es mir durch den Kopf. Vertraute er mir? Ich zog meine Mundwinkel zu einem Lächeln nach oben. »Ich fand es schön, vorletzte Nacht«, sagte ich und biss mir auf den Nagel meines kleinen Fingers.
Liam öffnete den Mund ein Stückchen, mehr geschah aber nicht. Er räusperte sich und deutete erneut in Richtung Schule.
»Bist du dir sicher, dass es dir gut geht?«, fragte ich vorsichtshalber, aber Liam wandte sich einfach nur ab und steuerte auf die Dünen zu.
Ich folgte ihm. Wir liefen zusammen in die Schule, aber ihm ging es ganz offensichtlich nicht gut. Mal abgesehen von der ungesunden Hautfarbe, räusperte er sich auffallend oft und stolperte mehrmals über seine eigenen Füße.
Wir waren einer der ersten, die im Gang vor dem Matheraum ankamen und dieses Mal hatte ich endlich einen Grund, mich neben Liam zu stellen. Er gähnte unterdrückt und lehnte seinen Kopf gegen die Wand. Ich spürte wie sich etwas in meinem Geist regte. Ein Gedanke formte sich. Leise, beinahe schläfrig.
»Der Regenbogen über den herabstürzenden Bach des Lebens.«
»Zitierst du gerade Nietzsche?«
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Herz aus Salz und Glut
FantasyEin Junge, der schweigt. Ein Mädchen, das die Wellen bändigt. Und ein Geheimnis, das nur allein das Meer kennt. Yara zieht mit ihrer Mutter an die Nordseeküste, um ein neues Leben zu beginnen. In ihre Stufe geht Liam, der nicht spricht und niemanden...