Immer wenn ich nach meinem Ritual in die Schule lief und die dunklen, langen Gänge betrat, fing ich an, an meinem Verstand zu zweifeln. Die müden Gesichter der anderen Jugendlichen, das matte Licht der Neonröhren an den Decken und der Geruch nach abgestandenem Staub und Deodorant umhüllten mich wie eine Wolke der Normalität, in der ich nichts anderes war, nichts anderes sein konnte, als ein siebzehnjähriges Mädchen, das gerade von der Großstadt ans Meer gezogen war und nun mit den alltäglichen Problemen als ›die Neue‹ zu kämpfen hatte. Und dennoch ging ich jeden Morgen an den Strand und vollbrachte etwas, das der Papst als ›Wunder‹ segnen würde.
Innerlich verdrehte ich die Augen, als ich versuchte, mir vorzustellen, mein Bild in einer neuzeitlichen Bibel wiederzufinden. Die Heilige Yara von Drya. Sie konnte Wasser bändigen. Die Legende von Aang ist wirklich passiert und war nicht nur Produkt der Phantasie eines Kindersenders. Doch im einundzwanzigsten Jahrhundert würde die Regierung mich wohl eher in ein Labor sperren und geheime Tests an mir durchführen, die mit Sicherheit gegen die Menschenrechte verstoßen.
Mit einem unterdrückten Seufzer lehnte ich mich an die Wand im Gang zum Matheraum und versuchte mich nicht von einer Welle kollektiven Gähnens mitreißen zu lassen. Als am Ende des Flurs ein Rotschopf auftauchte, versteifte ich mich reflexartig. Flynn schenkte den anderen nur ein knappes Nicken und steuerte dann zielstrebig auf mich zu. Am liebsten wäre ich unsichtbar geworden, oder hätte den Teppichboden in einen Teich verwandelt und wäre darin versunken.
»Guten Morgen, Yara«, grüßte der Klassenschwarm und lehnte sich, mit lässig verschränkten Armen, neben mich.
»Guten Morgen«, erwiderte ich, sah kurz zu ihm hoch und suchte dann im Teppich nach Mustern.
»Ich hab dich gestern Abend vermisst. Du hast mich versetzt.«
»Ich habe dir eine SMS geschrieben.« Ich ging durch meine blonden Locken und brachte ein klägliches Lächeln zustande. »Mir war einfach nicht so nach Eis.«
Flynn musterte mich aus seinen hellen Augen. Mit dem roten Haar und den markanten Zügen wirkte er wie das Klischee eines Nordmannes. Er hätte wunderbar in einem Wikingerfilm oder bei Game of Thrones mitspielen können. Eigentlich hätte ich mich glücklich schätzen können, wenn einer der beliebtesten Jungen der Schule mit mir ausgehen wollte. Aber ich wusste den Rotschopf nicht richtig einzuschätzen. Gerüchten zufolge hatte er schon mit jedem Mädchen aus der Stufe etwas gehabt – zumindest mit den Beliebten. Ich passte also nicht wirklich in sein Beuteschema. Es musste dieser Glanz sein, der alles Neue umgab, ehe es normal und damit trist und uninteressant wurde, der Flynns Aufmerksamkeit auf mich lenkte. Ich fragte mich, wie viele Wochen es noch dauern würde, bis diese Magie von mir abfiel.
»Wie kann einem nicht nach Eis sein? Und außerdem: SMS? Wer schreibt heut zu Tage noch SMSen? Wieso machst du dir nicht einfach WhatsApp? Dann würd' ich das auch schneller mitbekommen.« Er hob die Brauen und schaffte es wirklich dabei unschuldig überrascht zu klingen.
Es tut mir leid, Flynn. Aber ich möchte einfach nicht mit dir ausgehen. Nimm es mir nicht übel.
Irgendein schlauer Mensch hatte einmal gesagt; ›Worte sagen viel, Taten die Wahrheit.‹ Dummerweise konnten ausgesprochene Worte ebenso eine Tat sein. Eine notwendige Tat, um Flynn loszuwerden. Aber ich wollte mich nicht mit dem Stufenschwarm anlegen, sondern möglichst unauffällig bleiben.
Ich lächelte gezwungen. »Ich habe kein WhatsApp. Auch kein Telegram, oder Lion, oder sonst etwas, falls du das fragen möchtest«
Flynn hob die Brauen. »Kann ja nicht wissen, dass du mehr so auf altmodisch stehst.« Er zog die Schulter hoch. »Ist alles in Ordnung?« Seine Hand fand einen Weg auf meine Schulter und ein kurzer Schauer breitete sich von dort in meinem ganzen Oberkörper aus. Nicht, weil diese Berührung furchtbar unangenehm für mich gewesen wäre, sondern, weil Liam genau in diesem Moment an mir vorbeilief. Er deutete ein Nicken in unsere Richtung an und lehnte sich dann direkt neben der Tür an die Wand. Die Zwillinge Natalie und Amelie saßen in seiner unmittelbaren Nähe und flochten sich gegenseitig kunstvolle Zöpfe in das dunkle Haar. Sie schienen Liams Anwesenheit kaum wahrzunehmen. Ganz anders verhielt sich das bei mir: Ich suchte seine Nähe, denn er war der einzige Faden, der im Geflecht der Stufengemeinschaft keinen Platz gefunden zu haben schien. Er bewegte sich wie eine Spinne in ihrem Netz über die eingewickelten Insekten - alias Schüler – hinweg, und tatsächlich wirkte er, in der Art, wie er dastand, die Schultern leicht angezogen, die Spitzen der Finger aneinandergedrückt und den Blick stur geradeaus gerichtet, ein wenig bedrohlich. Ich wollte auch eine Spinne sein. Vielleicht würde er mit jemandem seiner Spezies kommunizieren.
Flynn schnipste mit dem Finger vor meinem Gesicht und riss mich aus meinen Gedanken.
»Träumst du?« Er stellte sich vor mich und verzog die Lippen zu einem halben Lächeln. »Willst du vielleicht heute nach der Schule mit mir Eis essen? Ich lade dich auch ein.« Sein halbes Lächeln verwandelte sich in ein Grinsen. Wenn ich ein naives Mädchen wäre, dann würde ich seinem Charme jetzt verfallen, aber da ich das nun einmal nicht war, widerstand ich seiner Einladung auch dieses Mal. »Nein, danke«, sagte ich.
»Du bist echt hartnäckig. Du kannst mir ruhig sagen, wenn du was gegen mich hast!« Er zog eine Grimasse und ich atmete erleichtert auf, als Selina auf ihren Absatzschuhen angewackelt kam und sich mehr oder weniger in Flynns Arme fallen ließ. Ich machte einen großzügigen Schritt zur Seite. Selina richtete sich an den breiten Schultern des Hünen wieder auf und warf einen abschätzigen Blick auf mich.
»Was stimmt eigentlich mit deinen Haaren nicht? Schon mal was von Shampoo und Bürste gehört?«
Meine Finger wanderten automatischen zu meinen wirren Locken, in denen sicher Sand und Salz klebten. Wir besitzen keine Dusche und ich bürste mich nur einmal in der Woche, hätte ich am liebsten mit einer gehörigen Portion Sarkasmus gesagt, doch stattdessen murmelte ich ein leises: »Doch.« Allerdings hörte Prinzessin mir schon nicht mehr zu, sondern packte Flynn an der Hand und zog ihn zu den ›coolen‹ Jungs hinüber. Das Licht der Neonröhren schillerte dabei wie Schnee auf ihrem blondierten Haarschopf. Selina erfüllte mit solcher Detailverliebtheit das Klischee der Stufenzicke, dass ich mich beinahe fremdschämte. Kopfschüttelnd machte ich noch einen Schritt zur Seite und wollte mich gerade zurück an die Wand lehnen, als mich zwei Hände an den Oberarmen berührten. Der Mondstein biss mich und ich wirbelte herum. Liam stand direkt vor mir. Als besäße er seine ganz eigene Gravitation, hatte es mich ausgerechnet in die Richtung gezogen, in der er stand. Ich bin der Spinne in die Falle gegangen, schoss es mir durch den Kopf. Und dann: Er hat mich heute Morgen gesehen.
Doch Liam schob nur die Hände in die Hosentasche und stellte sich auf die andere Seite der Tür.
Etwas benommen lehnte ich mich zu ihm und tat so, als wäre sonst nirgendwo mehr ein Platz frei. Er roch etwas salzig, nach Meer. Ich hätte gerne mit den Fingerkuppen über seinen Arm gestreichelt oder ihm die hauchfeinen Sandkörner von den hohen Wangen gestrichen. Jedes Mal, wenn ich es mir erlaubte, ihn zu betrachten, wurde mir bewusst, wie unglaublich schön Liam aussah.
Es war keine herbe, männliche Schönheit wie bei Flynn, sondern eine feine, sanfte, als hätte jemand seine Züge nicht nur aus Stein gehauen, sondern auch abgeschliffen und poliert. Aber gerade diese Art von Schönheit ließ ihn bedrohlich wirken. Zu perfekt, zu kalt. Wenn er wenigstens mal lächeln würde, überlegte ich. Aber Liam tat die meiste Zeit so, als ginge ihn das Leben um ihn herum nichts an. Er blieb stumm und unberührt. Und ich musste mich – wie so oft – fragen, was mich genau so sehr an ihm anzog. War es wirklich nur die Tatsache, dass er nicht an die Stufe angepasst war? Oder sein Schweigen? Oder war da noch etwas anders ... Wenn ich Liam nahekam, dann fühlte ich mich manchmal als würde ich auf dem Rücken einer gigantischen Möwe sitzen und über die Wellen blicken, die mal aus Flammen, mal aus klirrendem Eis bestanden. Aber immer war da dieses Gefühl von Freiheit, von Unendlichkeit und Tiefe. Und dass mir dieses Gefühl keine Angst machte, sondern im Gegenteil, ein belebendes, fast schon berauschendes Kribbeln in mir hervorrief, ließ mich automatisch nach seiner Nähe suchen. Auch wenn er sich so abweisend und distanziert verhielt. Wäre er gemein zu mir, dann hätte ich einen Grund gehabt, mich von ihm fernzuhalten. Aber Liam gab mir keinen Grund, ihn zu meiden. Er gab mir aber auch keinen Grund, mich um ihn zu bemühen. Zumindest keinen Greifbaren. Es war zum Verrückt werden.
In den ersten beiden Stunden – Mathe – saß ich neben Lydia. Ein kleines, blondes Mädchen, das ununterbrochen über die Boygroup One Direction plaudern konnte. Ich mochte sie irgendwie. Wir teilten zwar nicht unbedingt denselben Musikgeschmack, aber sie hatte mich sehr offen aufgenommen und bildete das Bindeglied zwischen mir und den anderen in meiner Stufe.
Ich warf einen Blick nach hinten. Liam saß, wie immer, mit nur zwei Kugelschreibern an dem Saum seines T-Shirts geklemmt und sonst völlig unvorbereitet, neben Flynn in der hintersten Reihe und stierte Löcher in die Luft.
Wenn Liam die Spinne war und ich das im Spinnennetz gefangene Insekt, überlegte ich, dann war Lydia die helfende Hand, die das Insekt aus dem Netz befreite. Dumm nur, wenn sich das Insekt zu der Spinne hingezogen fühlte. Aber vielleicht war ich in der ganzen Metapher nicht das Insekt, sondern ... Ja, was? Wer war ich? Wer konnte ich sein? Wer wollte ich sein? Alles Fragen, die sich nicht so leicht beantworten ließen. Zumindest nicht, wenn man inmitten eines klebrigen Spinnennetzes hockte und nicht wusste, ob man gerettet werden wollte, oder nicht.
»Ich hab zwei Karten für das Konzert ergattert«, raunte Lydia mir zu, während Herr Schneider sich, die grimmige Miene geschickt hinter seinem Bart versteckend, über die Matheklausuren beschwerte, die er gerade korrigierte und die, allem Anschein nach, nicht sonderlich gut ausfallen würden.
»Cool«, gab ich meiner Sitznachbarin eine wenig motivierte Antwort. Ich ging bereits nochmal die Aufgaben der Arbeit durch und überlegte, ob ich mir Sorgen machen musste, als ich das Kratzen eines Stuhles auf dem Kunststoffboden hörte.
Herr Schneider sah mich an. Nein. Er schaute an mir vorbei.
»Wo willst du hin, Liam?«, fragte er. Ich drehte mich - wie alle anderen auch - zu ihm um. Liam lief um seinen Tisch herum, fuhr sich durch das schwarze Haar und eilte dann Richtung Tür. Ich erhaschte nur einen kurzen Blick auf sein Gesicht. Es sah kreidebleich aus.
»Ich glaube, der muss sich übergeben«, sagte Flynn und rückte den freigewordenen Platz zu Natalie auf.
»Wenn er nur mal den Mund aufmachen würde«, fluchte Herr Schneider. Ich sah zu der halboffenen Tür und verspürte das dringende Bedürfnis ihm hinterherzulaufen.
»Wie auch immer«, sagte mein Mathelehrer und begann irgendeine Matrix an die Tafel zu schreiben. »Wir werden jetzt die Aufgaben der Klausur besprechen.« Ich spürte einen seltsamen Schmerz in meiner Brust und ehe ich wusste, was ich da eigentlich tat, stand ich auf.
»Mir geht es auch nicht so gut«, behauptete ich, legte eine Hand auf den Bauch und machte mich eilig daran, den Raum zu verlassen. Ich hörte die anderen hinter mir flüstern. Was tat ich da eigentlich?
Auf halbem Weg zu den Toiletten blieb ich stehen und überlegte, einfach wieder umzukehren. Was sollte ich zu ihm sagen? ›Hi, ich hab mir Sorgen gemacht, du hast zwar noch nie ein Wort mit mir gewechselt, aber was soll's?‹ – sicher nicht.
Ich hielt mitten im Flur inne, wandte mich an die Fensterseite, legte meine Arme auf den breiten Sims, auf dem Morgens sonst die Schüler saßen, und schaute nach draußen auf den Schulhof. Jemand kniete auf dem Platz, die Hände auf den Boden gestützt: Liam.
Meine Beine reagierten schneller als mein Kopf und ich stürmte zu ihm nach draußen.
»Liam?« Ich kniete mich zu ihm. »Was ist los?«
Er stöhnte und drehte den Kopf zur Seite. Dunkelblaue Augen schienen meinen Blick zu suchen – das Meer darin wogte - und als ich ihn erwiderte, biss mich der Mondstein erneut in die Haut. Doch ich ignorierte das Gefühl, denn in Liams angespannten Gesichtszügen stand Schmerz.»Soll- soll ich Hilfe holen?«
Sein Blick lag immer noch auf mir und so langsam spürte ich, wie mir das Blut in die Wangen wanderte. »Liam?«
Zögerlich, als müsste er gegen einen Widerstand ankämpfen, schüttelte er den Kopf und rappelte sich hoch. Ich folgte seiner Bewegung und als er wankte, griff ich nach seinem Arm.
Liam riss sich los. Die Geste kam so plötzlich, dass ich einen Schritt zurücktaumelte und ihn entsetzt anstarrte. Er stand zwischen mir und dem Messingtor, das die Schule von der Außenwelt abgrenzte. Jetzt kam ich mir vor wie die Spinne und er wirkte wie eine Biene, die sich drehte und wandte, um der tödlichen Falle zu entkommen. Aber ich wollte ihm nichts Böses. Liam ballte die Hände immer wieder zu Fäusten und lockerte sie wieder. Seine Lippen bewegten sich, als würde er irgendetwas vor sich her murmeln, aber kein einziger Ton drang aus seinem Mund.
»Was ist mit dir?«, fragte ich leise, aber dennoch durchschnitt meine Stimme den stillen Raum zwischen uns wie eine Klinge die Haut des Feindes. Es schien, als würde die Luft sein Schweigen bluten. In meinen Händen kribbelte es und auch mein Mondstein wurde warm. Der Anhänger reagierte auf meine Emotionen, aber dieses Mal hatte ich das Gefühl, er würde auch auf seine reagieren.Liam wandte sich ab, taumelte durch das Tor und eilte davon. Schweigend blieb ich stehen und schaute ihm nach. Ich habe ihn angesprochen, ging es mir durch den Kopf. Aber, vielleicht gerade deswegen, erschien er mir noch weiter weg als zuvor.
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Herz aus Salz und Glut
FantasyEin Junge, der schweigt. Ein Mädchen, das die Wellen bändigt. Und ein Geheimnis, das nur allein das Meer kennt. Yara zieht mit ihrer Mutter an die Nordseeküste, um ein neues Leben zu beginnen. In ihre Stufe geht Liam, der nicht spricht und niemanden...