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Ich saß auf meinem Bett und starrte das Bild eines Elfen mit muskulösen, nackten Oberkörper an, das an der Wand hing. Immer wieder ging mir das Treffen von heute Morgen durch den Kopf, aber auch Flynns Worte kreisten in meinen Gedanken. »Er ist nicht der, der er behauptet zu sein.«

Das war ich auch nicht und Liam hatte es gesehen. Er hatte gesehen, wie ich Wasser bändigte und mit einem Lächeln darauf reagiert. Aber er war nicht überrascht gewesen. Das konnte nur eines bedeuten: Liam verbarg selbst ein Geheimnis. Vielleicht würde er es mir – jetzt, da er meines kannte – verraten. Ich fragte mich, ob und was die Insel mit uns zu tun hatte. Es fühlte sich so an, als schlummerte in den Tiefen der Nordsee ein Wissen, das all die seltsamen Ereignisse miteinander verband. Liam, die Insel, mich ... Die Nordsee gab zwar ihre Melodie preis, aber ansonsten schwieg sie. 

Ich setzte mich an den Schreibtisch, klappte den Laptop auf und gab ›geheimnisvolle Insel in der Nähe von Drya‹ bei Google ein. 

Doch die Suchmaschine spuckte nur zahlreiche Links mit dem Titel; ›Sichtung eines geheimnisvollen Flugobjekts am Himmel‹ oder ›Sichtung eines großen Schattens hinter den Wolken‹ aus, aber über eine geheimnisvolle Insel konnte ich nichts finden und Ufo-Sichtungen interessierten mich nicht. Seufzend lehnte ich mich in meinem Drehstuhl nach hinten und fragte mich, was Liam jetzt machte.

Nach unserer Umarmung war er einfach gegangen, als wäre ihm plötzlich eingefallen, dass noch ein Topf Suppe auf seinem Herd stand, oder Muffins im Ofen. Ich erinnerte mich an seine Wärme, an seine Blicke, an seine Berührungen auf meinem Rücken und erschauderte. Diese Momente mit ihm waren so flüchtig, doch gleichzeitig so intensiv, dass ich nicht anders konnte, als mich danach zu sehnen. 

Ich beschloss der Suchmaschine eine zweite Chance zu geben, aber dieses Mal gab ich: ›Menschen, die ihre Augenfarbe ändern können‹ ein. Natürlich fand ich damit auch nicht das, was ich suchte. Ich wusste ja noch nicht Mal, nach was ich suchte.

Ich sparte mir ›Menschen, die Wasser bändigen können‹ einzugeben, dann das hatte ich schon versucht und was bisher immer nur bei Avatar – Herr der Elemente gelandet. Was gäbe ich jetzt dafür, wenn Katara plötzlich vor meiner Tür stehen würde, um mir zu helfen, meine Fähigkeiten zu verstehen. 

Ich verdrehte die Augen. Von unten hörte ich, wie jemand den Schlüssel im Schloss umdrehte und stellte mich innerlich schon einmal darauf ein, meiner Mum zu begegnen, die immer noch davon ausging, dass ich an einer schlimmen Infektion litt. Zugegeben, musste ich ihr einen ziemlichen Schrecken eingejagt haben, als ich mit fast vierzig Fieber in der Küche zusammengebrochen war. Doch für eine Infektion hatte ich mich viel zu schnell erholt. 

Es lag nicht an Viren oder Bakterien, nein. Ich veränderte mich. Meine Fähigkeiten wurden stärker und vermutlich musste sich mein Körper erst einmal daran gewöhnen – das sagte mir zumindest meine Intuition. Dad meinte immer, ich sollte auf meine innere Stimme hören. 

»Du bist das Mädchen mit den Augen wie Gewitterwolken. Du bist meine Sturmtochter. Wenn ich auf irgendeine Intuition hören müsste, dann wäre es deine.«

Ich hatte mich in meinem Leben noch nie verlaufen. Und immer, wenn ich mit meinem Vater wandern war und er die Karte nicht richtig deuten konnte, hatte er mir die Führung überlassen. 

Solche Erinnerungen hatten etwas melancholisch Schönes, fand ich, und musste lächeln. Manchmal überkam mich das Gefühl, als hätte er mehr gewusst, als er zugeben wollte. Zumindest seit damals ... 

Seit dem Tag, als ich ihn das letzte Mal ehrlich lächeln gesehen hatte, seit dem Tag, an dem er seine Freude in einen Mondstein gesperrt zu haben schien, nur damit der Anhänger mich beschützen konnte ... 

»Das Meer wollte dein Lächeln ebenso zurückhaben wie ich«, murmelte ich in mich hinein. Ich musste an die Worte denken, die ich an Liam gerichtet hatte. Und es stimmte. Irgendwie fühlte ich mich befreit. 

Mit einem Lachen und Weinen zwischen meinen Herzschlägen, stürmte ich nach unten und begrüßte meine Mum mit den Worten: »Ich glaube das Meer hat Dad befreit.« 

Herz aus Salz und GlutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt